Der wichtigste netzpolitische Moment 2019

In wenigen Wochen wird in Europa die folgenschwerste netzpolitische Entscheidung dieses Jahres getroffen. Die Uploadfilter in der Urheberrechtsrichtlinie schaffen eine Verpflichtung zur automatisierten Vorabkontrolle aller nutzergenerierten Inhalte im Internet. Es droht eine Löschorgie gigantischen Ausmaßes. Doch noch ist es nicht zu spät. Wie bei ACTA und dem Kampf um die Netzneutralität können wir noch gewinnen, wenn wir uns kurz vor der EU-Wahl direkt an unsere Europaabgeordneten wenden. Eine heute gestartete Kampagne versucht genau das so einfach und effektiv wie möglich zu machen. 

Auf www.pledge2019.eu können Menschen aus Europa bis zur finalen Abstimmung im Plenum des EU-Parlaments in den Büros ihrer Abgeordneten anrufen. Die Abstimmung findet nur wenige Wochen vor der Europawahl statt, bei der sich ein Großteil der Abgeordneten der Wiederwahl stellt. Seit Günther Oettinger die Urheberrechtsnovelle 2016 auf den Weg gebracht hat, sind die Stimmen der Kritiker an diesem Gesetz immer lauter geworden. Sollte es wie geplant beschlossen werden, müssten Plattformen wie YouTube im großen Stil Videos löschen und alle neuen Uploads rigoros filtern. Die Reaktion auf die Kritiker folgte bisher dem Muster trumpscher Politik. Jugendliche, die um ihre Lebensrealität im Internet fürchten, wurden als fake news abgetan, ihnen wurde vorgeworfen die Gesetzestexte nicht zu kennen oder im Fall der EU-Kommission wurden junge Menschen, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben für Europapolitik interessieren, als Mob diffamiert

Jetzt kommen wieder sekündlich Mails zum Thema #uploadfilter & #Artikel13 rein. Mal ganz davon abgesehen, dass diese inhaltlich nicht richtig sind, stammen ALLE von #Gmail Konten.🤔 Mensch #google, ich weiß doch das ihr sauer seid, aber habt ihr diese #fake Aktion wirklich nötig?

— Sven Schulze (@schulzeeuropa) February 15, 2019

Kritiker an den Gesetzesvorschlägen werden systematisch als bezahlte Lobbyisten von Google diskreditiert oder einfach pauschal als Bots abgetan. Die Befürworter tun alles um sich ja nicht mit dem Inhalt der Kritik an ihren Vorschlägen auseinander zu setzen. Diese Strategie funktioniert jedoch nicht, wenn man den Menschen gegenübertreten und ihren Argumenten Gehör schenken muss. Wenn digitale Kommunikationswege wie E-Mails oder Tweets nicht ernst genommen werden und Faxe leider auch nicht mehr physisch im Europaparlament ankommen, dann ist das effektivste Mittel ein einfacher Telefonanruf. Deshalb erlaubt die Pledge-Kampagne Nutzern ohne Auslandsgebühren gratis bei Europa-Abgeordneten anzurufen und auch gleich wöchentliche oder tägliche Anrufe nach Brüssel oder Straßburg zu abonnieren. 

Ziel der Kampagne ist es, den Abgeordneten das Versprechen abzunehmen, gegen Uploadfilter in beiden Gesetze zu stimmen. Anders als typische Wahlversprechen müssen die Abgeordneten noch vor der Europawahl im Mai 2019 beweisen, ob sie dieses Versprechen eingehalten haben, was anhand des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung überprüfbar ist. 

Der demokratische Kollateralschaden der derzeitigen Urheberrechtsdebatte ist noch gar nicht abzuschätzen. Eine ganze Generation ist mit ihrer täglichen Mediennutzung ins Fadenkreuz der Politik gekommen und ihr Protest gegen diese Gefahr wird als „Mob“ denunziert. Viele dieser jungen Menschen beteiligen sich gerade zum ersten Mal in ihrem Leben aktiv und demokratisch an einem Thema, das ihnen wichtig ist. Sie tun das noch dazu auf europäischer Ebene, was gerade in der EU-Kommission ein Grund zur Freude und nicht für Gegenangriffe sein sollte. Viele Jugendlichen sind verärgert über Politiker, die keine Ahnung von der technischen Funktionsweise von Plattformen haben, aber an Gesetzen festhalten die Remix- oder Gamerkultur beschränken oder ganz verhindern. 

Neben den Gefahren einer EU-weiten Zensurinfrastruktur ist dieser Moment auch eine Weichenstellung darüber, ob weiterhin rechtsstaatliche Gerichte oder bald Algorithmen privater Unternehmen über die Grenzen unserer Meinungsfreiheit entscheiden werden. Plattformregulierung ist das netzpolitische Themenfeld, in dem über die Verantwortung großer Plattformen für Hate Speech, Urheberrechsverletzungen oder extremistische Inhalte ihrer Nutzer verhandelt wird. Die viel zu einfache und sehr gefährliche Antwort vieler Politiker ist es, die Plattformen direkt haftbar für die Inhalte ihrer Nutzer zu machen und damit zu einer Vorabkontrolle (durch Uploadfilter) zu zwingen. Heute gilt noch das sogenannte Hostproviderprivileg, das besagt Plattformen haften erst ab Kenntnis über illegale Inhalte und müssen nicht präventiv ihre Nutzer kontrollieren. Derartige Regeln findet man überall auf der Welt und man kann sie getrost für die heutige Vielfalt und Innovationsfähigkeit des Internets verantwortlich machen. In den USA haben wir gesehen was passiert, wenn dieses Haftungsprivileg aufgeweicht wird. Mit dem FOSTA-SESTA Gesetz wurde das Hostproviderprivileg für Inhalte mit Bezug zu Sex- und Menschenhandel eingeschränkt. Um dem unkalkulierbaren Haftungsrisiko zu entgehen haben viele Internet-Plattformen aber zu extremen Mitteln gegriffen und komplett legale Inhalte entfernt, im Fall von Tumblr wurden 12,5 Millionen Blogs ganz einfach gelöscht.

In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird klargestellt, dass Meinungsfreiheit insbesondere dort das Individuum beschützen muss, wo es um streitbare und herausfordernde Inhalte geht. Grundrechte werden immer an den Rändern der Gesellschaft verteidigt. Wer glaubt, er kann solche Fragen an ein Computerprogramm delegieren, hat weder die Technik verstanden, noch die Gesellschaft in der er lebt. Noch ist es nicht zu spät Artikel 13 zu verhindern, wenn wir heute noch zum Telefon greifen. 

Dieser Artikel ist zuerst auf netzpolitik.org erschienen

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