Hört auf, uns zu scannen!

Moderne Technologien können unser Leben auf vielfältige Weise vereinfachen und positiv zu unserer Gesellschaft beitragen. Was dabei leider oft verloren geht: Technologie allein kann keine fundamentalen gesellschaftlichen Probleme lösen. Schon gar nicht indem man sie dabei weniger sicher macht. Darauf haben wir schon im Juni mit unserer Dachorganisation EDRi und insgesamt 118 Organisationen in einem offenen Brief an die EU-Kommission hingewiesen. Heute startet die internationale Kampagne stopscanningme.eu gegen die sinnlose Massenüberwachung.

Kritik aus dem EU-Parlament

Dass die Chatkontrolle eine schlechte Idee ist, scheint endlich auch im EU-Parlament angekommen zu sein. Denn die EU-Kommissarin Ylva Johansson erntete vergangenen Montag, 10.10.2022, massive Kritik im Bürgerrechtsausschuss bei der Vorstellung eines höchst problematischen Gesetzesentwurfs zu einer umfassenden Chatkontrolle.

Dieses Video stellt die Probleme mit der Chatkontrolle und mögliche Lösungsansätze noch einmal kompakt und anschaulich dar:

Die Chatkontrolle verfehlt ihr Ziel

Das erklärte Ziel ist zwar ein nobles und sehr ernstes, denn es geht um den Schutz unserer Kinder vor sexualisierter Gewalt. Dieser muss unter allen Umständen gewährleistet werden. Das lückenlose Scannen aller Chats verfehlt aber dieses Ziel auf allen Ebenen. Denn es packt das Problem nicht an der Wurzel, sondern versucht mit scheinbar einfachen Mitteln, nur Symptome eines viel tieferliegenden und komplexeren Problems zu bekämpfen und scheitert sogar daran. Es verfehlt also nicht nur die Lösung des Problems, sondern schafft mit seinen ineffektiven Methoden noch viele weitere.

Überwachung durch die Hintertür

Der Gesetzesentwurf sieht nämlich vor, sämtliche private, digitale Kommunikation aller EU-Bürger:innen zu überwachen und auf potenziellen Kindesmissbrauch zu durchsuchen. Dabei soll auch das Alter aller User:innen überprüft und der Content auf Plattformen gefiltert werden. Gesprächsinhalte die z.B. in Emails, privaten Nachrichten oder auf sozialen Netzwerken maschinell als verdächtig markiert wurden, sollen dann im neu zu gründenden „EU-Centre on Child Sexual Abuse (EUCSA)“ gesammelt werden, das eng mit der datenhungrigen EU-Polizeibehörde Europol zusammenarbeiten soll.

Das ist auf vielen Ebenen problematisch, denn technisch ist dieses Vorhaben nur mit einem gravierenden Eingriff in unsere Grundrechte wie Privatsphäre und Redefreiheit möglich. Warum? Zur Umsetzung des Entwurfs müsste eine der wichtigsten Technologien untergraben werden, die eben diese Rechte im digitalen Bereich sicherstellt: die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Bisher ist das Prinzip in den meisten Fällen intakt und gewährleistet, dass Nachrichten nur auf den jeweiligen Geräten der Chat-Partner:innen gelesen werden können. Um nun alle Chats zu überwachen, müsste man entweder die Verschlüsselung aufheben oder die Nachrichten noch vor dem verschlüsselten Versand bzw. nach der Entschlüsselung beim Empfang scannen. Das nennt man „Client-Side-Scanning“ und bedeutet, dass z.B. jeder Messengerdienst auf allen Telefonen eine Hintertür einbauen müsste, die das Scannen ermöglicht.

Ende der vertraulichen Kommunikation

Damit werden alle User:innen von digitalen Kommunikationsmedien unter Generalverdacht gestellt und zutiefst unsere Grundrechte verletzt. Niemand könnte sich mehr auf die Vertraulichkeit seiner oder ihrer Kommunikation verlassen. Das gefährdet vor allem auch diejenigen Gruppen in unserer Gesellschaft, die am verletzlichsten sind und die die Verschlüsselung eigentlich schützen soll. Denn auch z.B. eine anonyme Beratung von Opfern sexualisierter Gewalt ist mit einer derartigen Unterwanderung der vertraulichen Kommunikation nicht mehr möglich.

Obendrein ist so eine Regelung auch eine massive Bedrohung für diejenigen, die in ihrer wichtigen gesellschaftlichen Arbeit auf vertrauliche Kommunikation angewiesen sind, wie z.B. Journalist:innen, Ärzt:innen, Rechtsanwält:innen, Whistleblower:innen, Psycholog:innen oder Menschenrechtsaktivist:innen. Aber auch für Oppositionelle und gesellschaftliche Minderheiten stellen derartige Überwachungsmaßnahmen potenziell eine grobe Gefahr dar.

Warum die Chatkontrolle ein ungeeignetes Mittel im Kampf gegen Kindesmissbrauch ist, könnt ihr noch einmal in unserer Paneldiskussion im Wiener Burgkino nachschauen:

Schwere Verstöße gegen EU-Recht

Die Maßnahmen verstoßen also gegen signifikante Teile des EU-Rechts, v.a. gegen die EU-Grundrechtecharta und das Verbot der allgemeinen Überwachungspflichten. Nicht nur EU-Parlamentsabgeordnete sind alarmiert, sondern sogar der höchste UN-Menschenrechtskommissar warnt vor einer massiven Bedrohung für die Menschenrechte durch die geplante Chatkontrolle.

Scannen legaler, intimer Nachrichten

Aber auch technisch hat der Ansatz grobe Probleme. Denn eine zuverlässige Trefferquote der geplanten Filter ist nicht gesichert. Doch selbst eine unrealistisch hohe Trefferrate von 99% würde bei der unfassbaren Anzahl an täglichen Nachrichten immer noch zu einer hohen Menge an Fehlmeldungen führen und zahlreiche Menschen völlig zu unrecht kriminalisieren. Die zuständige Stelle würde also massenhaft völlig legale, intime Nachrichten zu Gesicht bekommen und händisch aussortieren müssen. Auch Chats unter Jugendliche, die im gegenseitigen Einverständnis intime Bilder oder Nachrichten versenden oder z.B. die Bilder vom Baden am See, oder der vertrauliche Austausch mit dem Kinderarzt wären unweigerlich von der Kontrolle betroffen.

Das zugrundeliegende Problem anpacken!

Es würden mit der Chatkontrolle also wichtige Ressourcen bei der Umsetzung eines ineffektiven und gefährlichen Systems verschwendet werden. Dabei könnte man das Problem gleich bei der Wurzel packen und z.B. in Aufklärung investieren, Bewusstsein für das Problem schaffen, in Hotlines für den Kinderschutz, in Hilfs-Angebote für Opfer und Täter, in Präventionsarbeit oder schlicht in die effektivere Durchsetzung von bereits existierenden Regelungen investieren. All das wäre nicht nur weitaus besser auf das zugrundeliegende Problem des Kindesmissbrauchs zugeschnitten, sondern ist auch ganz ohne grobe Grundrechtsverletzungen möglich.

stopscanningme.eu

Die kollektive Kritik wird von allen Seiten immer lauter. Gemeinsam mit unserer Dachorganisation EDRi und insgesamt 13 Organisationen aus ganz Europa haben wir die internationale Kampagne stopscanningme.eu gestartet und veröffentlichen auch eine umfassende Analyse in einem Positionspapier.

Hilf bitte mit, denn gemeinsam können wir uns gegen dieses sinnlose und gefährliche Vorhaben wehren! Für eine sichere & effektive Alternative, denn wir alle brauchen in unserer demokratischen Gesellschaft unbedingt einen sicheren und vertraulichen Rückzugs- und Kommunikationsraum.

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