Vorratsdatenspeicherung
Alle Menschen unter Generalverdacht
Vorratsdatenspeicherung (VDS) und anlasslose Massenüberwachung waren Herausforderungen, die zur Gründung des AKVorrat führten. Nach Jahren der Auseinandersetzung schafften wir den Durchbruch: Die Annullierung der EU-Richtlinie 2006/24/EG durch den Europäischen Gerichtshof im April 2014 war ein überwältigender Sieg für die Bürgerrechte in Europa und Österreich.
Vorratsdatenspeicherung bedeutet das anlasslose Sammeln und Speichern personenbezogener Daten. Ohne konkreten Verdacht auf strafbare Handlungen werden bei Telekommunikationsvorgängen anfallende Verbindungsdaten vorsorglich aufbewahrt. Sie enthalten exakte Informationen, wer, wann, wo und wie lange mit wem kommuniziert hat. Auf dieser Basis erstellte Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile haben oft mehr Aussagekraft über das Leben von Menschen als die eigentlichen Inhalte ihrer Kommunikation.
Die mit der VDS verbundenen, massiven Grundrechtseingriffe bedeuten eine Bedrohung der individuellen Freiheit. Sie erschüttern die Fundamente der Demokratien westlicher Prägung, die daraufhin in Gefahr laufen, von Rechtsstaaten zu Präventionsstaaten und letztendlich totalitären Überwachungsstaaten abzudriften.
Terror als Rechtfertigung für Massenüberwachung
In den Tagen nach den Terroranschlägen von New York am 11. September 2001 verkündeten die europäischen Außenminister die uneingeschränkte Solidarität der Europäischen Union mit den Vereinigten Staaten. Der Europäische Rat für Justiz und Inneres forderte die EU-Kommission auf, Vorschläge zur Überwachung der elektronischen Kommunikation zu unterbreiten. Strafverfolgungsbehörden sollten Zugang zu Daten von Telefon-, Handy-, E-Mail- und anderen Internet-Verbindungen erhalten. Der erste Entwurf zur Vorratsdatenspeicherung vom April 2004, vorgelegt von Frankreich, Irland, Schweden und Großbritannien, wurde Ende Mai 2005 vom EU-Parlament zurückgewiesen, unter anderem, weil man Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention gefährdet sah. Die Terroranschläge in Madrid (11. März 2004) und London (7. Juli 2005) verstärkten jedoch den politischen Druck. Ein überbordendes Sicherheitsdenken griff um sich und nutzte die Angst der Bürger und den Terror zur Rechtfertigung einer anlasslosen, staatlichen Massenüberwachung aller in der EU lebenden Personen.
Schnellstes Gesetzgebungsverfahren der EU-Geschichte
Am 21. Sept. 2005 unterbreitete die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Vorratsdatenspeicherung. Er stützt sich auf die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten in Form einer Richtlinie. Auf Druck des britischen Innenministers und nach informellen Absprachen zwischen Ministerrat, Christdemokraten (EVP) und Sozialdemokraten (PSE) wurde er am 14. Dez. 2005 im Plenum des EU-Parlaments mit Widerstreben angenommen.
Die Vorgehensweise bei dieser Beschlussfassung war bedenklich: Trotz ihrer beängstigenden Auswirkung auf die Bürgerrechte wurde die Richtlinie in nur drei Monaten – dem bislang kürzesten Gesetzgebungsverfahren seit Bestehen der EU – abgewickelt.
Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (2006/24/EG)
Am 15. März 2006 trat die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (2006/24/EG) in Kraft. Mit ihr wurden die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, die Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten sowie Daten zur Feststellung der Identität der jeweiligen Teilnehmer nach nationalem Recht sicherzustellen. Den Providern wurde auferlegt, die Verbindungsdaten nahezu aller Kommunikationsvorgänge für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten und höchstens zwei Jahren zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten aufzubewahren.
Mit der Richtlinie wurde das bis dahin gültige, grundsätzliche Verbot der Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten durch andere Personen als den Nutzer selbst bzw. ohne dessen Einwilligung außer Kraft gesetzt.
Die wesentlichen Kritikpunkte
Bedrohte Grundrechte: Mit der EU-Richtlinie wird das Grundrecht ausgehöhlt, ein von staatlicher Kontrolle unbehelligtes Privatleben zu führen. Auch die Meinungs- und Informationsfreiheit sowie das Redaktionsgeheimnis sind lädiert und das Grundrecht auf Datenschutz massiv beschnitten. Ein Paradigmenwechsel findet statt: weg von der Unschuldsvermutung, hin zur vorauseilenden Verdächtigung. Berufsgeheimnisse werden unterlaufen und das damit verbundene Vertrauen in Frage gestellt, da Kontakte zu Ärzten, Anwälten, Psychologen und Journalisten nachverfolgbar bleiben.
Vorgebliche Prävention: Der präventive Nutzen der Vorratsdaten zur Strafverfolgung wird in wissenschaftlichen Studien eindeutig widerlegt (Max-Planck-Institut, Freiburg, TU Darmstadt). Offizielle Stellen konnten bis heute keinen Nachweis erbringen, dass ein derartiger Pauschalverdacht die Sicherheit tatsächlich erhöht.
Schleichende Zweckentfremdung der Gesetze: Bald nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung in Österreich meldete die Contentindustrie, allen voran die Musik- und Filmwirtschaft, Begehrlichkeiten an: Bar jeden Zusammenhangs mit der ursprünglich intendierten Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität wurde Verwendung der Daten zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen gefordert. Selbstredend wollten auch die heimischen Militärgeheimdienste nicht abseits stehen und verlangten ihrerseits Zugriff zu bekommen.
Technische Umgehungsmöglichkeiten: Terroristen und organisierte Kriminelle können dem Überwachungsnetz mittels Sachkenntnis ausweichen – ein Aufwand, den der arglose, unbekümmerte Bürger in der Regel nicht auf sich nimmt.
Datenschutz: Auf Maßnahmen zur Datensicherheit seitens des Staates hofft man vergeblich. In jenen Jahren, als die Vorratsdatenspeicherung in Österreich in Kraft war (vom 1. April 2012 bis zum 27. Juni 2014), wurden seitens der zuständigen Datenschutzbehörde kein einziges Mal die Sicherheit der sensiblen Vorratsdaten bei den Providern geprüft.
Kosten: Nicht unbeträchtlich sind die Kosten für die Vorbereitung und den Betrieb der Vorratsdatenspeicherung in Millionenhöhe. Jahr für Jahr muss der Bürger seine eigene Überwachung in Form von Steuern und Tarifen selbst bezahlen.
Die Vorratsdatenspeicherung in Österreich und der Protest dagegen
Auch Österreich hatte die EU-Richtlinie in nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften umzusetzen, verhielt sich anfangs aber zögerlich.
Im Zuge des öffentlichen Diskurses formierte sich ein massiver zivilgesellschaftlicher Widerstand. Im Dezember 2009 wurde der „Arbeitskreis Vorratsdaten Österreich“ im – infolge der „Uni brennt“-Studentenproteste besetzten – Wiener Audimax gegründet. Wie der Name AKVorrat schon sagt, war unser Ziel, in Österreich und anderen EU-Staaten über die Vorratsdatenspeicherung aufzuklären und sie abzuschaffen.
Im Frühjahr des selben Jahres wurde das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM) vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) mit einem grundrechtsschonenden Entwurf für die nötige Novellierung des Telekommunikationsgesetzes 2003, des Sicherheitspolizeigesetzes sowie der Strafprozessordnung beauftragt. Die im September 2009 vom BIM hierzu vorgelegte begleitende wissenschaftliche Analyse ergab, dass es im Grunde gar nicht möglich ist, die EU-Richtlinie grundrechtskonform umzusetzen. Um sie zu reparieren, muss man sie gänzlich abschaffen, so die Empfehlung.
Christof Tschohl, Gründungsmitglied des AKVorrat, hatte im BIM an diesem Entwurf mitgearbeitet. Er war es auch, der später gemeinsam mit Ewald Scheucher die Verfassungsklage gegen die Vorratsdatenspeicherung formulierte, die viereinhalb Jahre später zum Fall der gesamten europäischen VDS-Richtlinie vor dem EuGH führen sollte. Bald darauf wurde auch ihre Umsetzung in Österreich für nichtig erklärt.
Am 17. Oktober 2011 startete der AKVorrat seine BürgerInneninitiative „Stoppt die Vorratsdatenspeicherung!“
Die zwei Forderungen unserer Bürgerinitiative lauteten:
- Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung: Die österreichische Regierung soll auf EU-Ebene (im Ministerrat) aktiv für die Abschaffung der EU-Richtlinie 2006/24/EG eintreten.
- Evaluierung der Anti-Terror-Gesetze: sämtliche Überwachungsgesetze sollen einer Überprüfung unterzogen werden.
Es entstand die bis dahin größte BürgerInneninitiative Österreichs in der Geschichte: Bis April 2012 hatten sich 106.067 Österreicherinnen und Österreicher mit ihren Unterschriften per Brief oder online – über die Plattform zeichnemit.at – für diese Anliegen ausgesprochen.
Trotz dieser enormen Reaktion der Zivilgesellschaft beschloss der Nationalrat unter dem Druck einer Strafandrohung seitens der EU-Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, im Frühjahr 2011 die Umsetzung der EU-Richtlinie (2006/24/EG) in nationales Recht. Am 1. April 2012 ist die Österreichische Vorratsdatenspeicherung schließlich in Kraft getreten.
Da der Begriff „schwere Straftat“ in der EU-Richtlinie nicht definiert worden war, konnte er von den einzelnen Mitgliedsstaaten beliebig ausgelegt werden. So wurden in Österreich alle mit Strafrahmen über einem Jahr bedrohten Delikte, als „schwere Straftat“ eingestuft. Damit war der Zugriff auch losgelöst vom eigentlichen Zweck – Bekämpfung von Terrorismus und internationaler, schwerer Kriminalität – möglich. Im folgenden Jahr machten heimische Ermittler fast täglich Gebrauch von der VDS, hauptsächlich jedoch in Verbindung mit Bagatelldelikten wie Diebstahl und Stalking.
Die Österreichische Umsetzung war im europäischen Vergleich zwar eher zurückhaltend. Das konnte aber nicht die Grundrechtsverletzungen kompensieren und die Kritik des AKVorrat entkräften. Um die österreichische Umsetzung der EU-Richtlinie zu Fall zu bringen, mussten wir vor die Höchstgerichte ziehen. Dies war die letzte Möglichkeit, die Grundrechte zu wahren. Erst mit Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung wurde es gesetzlich möglich, eine Verfassungsklage dagegen einzubringen. Am Tag vor Inkrafttreten der VDS in Österreich gab es landesweite Proteste unter dem Motto „Farewell Privacy“, bei denen DemonstrantInnen mit Särgen die Privatsphäre symbolisch zu Grabe trugen.
Bei diesem Anlass sammelte der AKVorrat die ersten unterschriebenen Formulare für die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung. Mit an Bord war Albert Steinhauser, Justizsprecher der Grünen (Nationalratsabgeordneter).
Die Kampagne erhielt in der Zivilgesellschaft regen Zuspruch: Auch im Internet konnte man sich unter verfassungsklage.at als MitklägerIn registrieren. Schlussendlich kamen 11.139 Individualbeschwerden zusammen. In viele Aktenordnern geheftet wurden sie in gemeinsamer Aktion mit den Grünen am 15. Juni 2012 beim Österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) schubkarrenweise vorgefahren und eingereicht.
Das Historische Urteil und der Fall der EU-Richtlinie
Mitte Dezember 2012 erklärte der Präsident des VfGH Gerhart Holzinger: „Wir haben Zweifel daran, dass die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit den Rechten, die durch die Europäische Grundrechtecharta garantiert werden, wirklich vereinbar ist“. Damit hatte das österreichische Höchstgericht entschieden, diese Fragen im Rahmen eines Vorabentscheidungsansuchens dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) vorzulegen.
Dieser erklärte am 8. April 2014 die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in der aktuellen Form für ungültig: Die VDS verletze wesentliche Grundrechte und verstoße insbesondere gegen die Achtung des Privat- und Familienlebens und den Schutz personenbezogener Daten. In diesem historischen Urteil wurde erstmals eine EU-Richtlinie gänzlich und nicht bloß in Einzelbestimmungen aufgehoben. Ein sensationeller Sieg für die Bürgerrechte und die Zivilgesellschaft.
In der folgenden öffentlichen mündlichen Verhandlung am VfGH am 12. Juni 2014 konnte die österreichische Bundesregierung keine neuen Erkenntnisse über einen signifikanten Mehrwert der VDS für die Strafverfolgung oder die Verbrechensprävention liefern. Am 27. Juni 2014 setzte der VfGH die Vorratsdatenspeicherung in Österreich schließlich außer Kraft. Damit hatte der erste EU-Mitgliedsstaat in Reaktion auf das EuGH-Urteil auch die nationale Umsetzung der VDS-Richtlinie abgeschafft.
Die zweite Forderung der Bürgerinitiative zeichnemit.at – die Evaluierung der bestehenden Überwachungsgesetze – ist von der Österreichischen Regierung nicht erfüllt worden. Doch hat der AKVorrat auch hier nicht aufgegeben und das Projekt HEAT, den Handlungskatalog für die Evaluation der Anti-Terror-Gesetze, ins Leben gerufen. Das Handbuch wurde in Version 1.1 am 11. September 2016, auf den Tag genau 15 Jahre nach den Terroranschlägen von New York, der Öffentlichkeit vorgestellt.
In diesen 15 Jahren waren wir Zeugen einer schrittweisen Ausweitung der Überwachungsmaßnahmen, die jeden Aspekt unseres täglichen Lebens betreffen, unsere Grund- und Bürgerrechte unterminieren und bedrohen. HEAT versteht sich als Handreichung an den Gesetzgeber und als Toolkit, das dabei helfen soll, eine faktenbasierte Sicherheitspolitik zu etablieren und die bestehenden Überwachungsmaßnahmen zurückzubauen bzw. neu vorgeschlagene Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu prüfen.
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