Anlasslose Vorratsdatenspeicherung rechtswidrig
Flächendeckende undifferenzierte Vorratsdatenspeicherung mit Grundrechtecharta unvereinbar
Mag. iur. Alexander Czadilek, Policy Analyst - alexander.czadilek [ät] epicenter.works
Der EuGH verschärft seine Rechtsprechung und bestärkt epicenter.works in seiner Rechtsmeinung: Bereits mit dem Urteil vom 8. April 2014 hat der EuGH der Vorratsdatenspeicherung, der anlasslosen Speicherung personenbezogener Daten der gesamten Bevölkerung, in Europa die Rechtsgrundlage entzogen. Der Arbeitskreis Vorratsdaten, jetzt epicenter.works, war ein wesentlicher Betreiber dieses Vorhabens. Erstmals in der Rechtsgeschichte der EU hat mit diesem Urteil der EuGH eine EU-Richtlinie zur Gänze aufgehoben. Zahlreiche Politiker haben den Gehalt dieses Urteils nicht verstanden und versuchen, eine Art "Vorratsdatenspeicherung light" durchzusetzen. Mit dem Spruch vom 21. Dezember 2016 hat der EuGH klargestellt, dass europäische Grundrechte generell nicht durch nationalstaatliche Gesetze ausgehebelt werden können.
Der EuGH hat eine richtungsweisende Entscheidung getroffen. Nationale Regelungen, die eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung vorsehen, sind mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der Europäischen Grundrechtecharta nicht vereinbar.
Obwohl der Gerichtshof im April 2014 die Richtlinie 2006/24/EG für ungültig erklärt hat, beließen einige Mitgliedstaaten die nationalen Umsetzungsbestimmungen in ihrem Rechtsbestand (z.B. Schweden) bzw. beschlossen neue, nationale Regelungen (z.B. UK) zur Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten. Mit dem vorliegenden Urteil bestätigt der EuGH zunächst, dass die oben genannten nationalen Regelungen in den Geltungsbereich der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (RL 2002/58/EG) fallen. Weiters stellt er fest, dass diese Richtlinie nicht rechtfertigt, dass die (an sich erlaubte) Einschränkung bzw. Ausnahme von der grundsätzlichen Verpflichtung der Gewährleistung der Vertraulichkeit von Kommunikation und insbesondere dem Verbot der Speicherung von Verkehrsdaten zur Regel wird. Die Liste der Zwecke, zu denen eine Abweichung von den Grundsätzen der Richtlinie zulässig ist (z.B. nationale Sicherheit etc.), ist zudem erschöpfend. Für andere als in Art. 15 Abs. 1 der RL 2002/58/EG ausdrücklich genannte Zwecke kann eine Vorratsdatenspeicherung nicht vorgeschrieben werden.
Weiters müssen alle nationalen Maßnahmen in diesem Bereich mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und der Grundrechtecharta übereinstimmen und daher auch im Lichte der Grundrechtecharta ausgelegt werden. Bemerkenswert ist, dass der EuGH nicht nur die Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und 8 (Schutz personenbezogener Daten) der Grundrechtecharta hervorhebt, sondern auch Art. 11 (Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit). Wörtlich heißt es dazu:
Folglich muss die Bedeutung sowohl des in Art. 7 der Charta gewährleisteten Grundrechts auf Achtung des Privatlebens als auch des in Art. 8 der Charta gewährleisteten Grundrechts auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt [...], bei der Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 berücksichtigt werden. Das Gleiche gilt in Anbetracht der besonderen Bedeutung, die der Freiheit der Meinungsäußerung in jeder demokratischen Gesellschaft zukommt, für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses in Art. 11 der Charta gewährleistete Grundrecht stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft dar, die zu den Werten gehört, auf die sich die Union nach Art. 2 EUV gründet [...].
Der EuGH hat mit dem Urteil auch einen Schlussstrich unter die Diskussion über die Möglichkeit, die auf Unionsebene beseitigte Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung auf nationaler Ebene wiedereinzuführen, gezogen. Nationale Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung müssen sich an den strengen Vorgaben des EuGHs messen lassen, wie sie im heutigen Urteil sowie im Urteil Digital Rights Ireland u.a. ausgeführt wurden.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGHs müssen sich Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten stets auf das absolut Notwendige beschränken. Dies gilt sowohl für Regeln über die Vorratsdatenspeicherung selbst als auch für Regeln über den Zugang zu den gespeicherten Daten.
Der EuGH weist wie schon im Urteil Digital Rights Ireland u.a. auf den sensiblen Charakter von Verkehrs- und Standortdaten hin, deren Speicherung die Erstellung von Bewegungs- und Persönlichkeitsprofilen ermöglicht und somit sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben einer Person zulässt. Der Grundrechtseingriff, der mit einer nationalen Regelung, die eine Speicherung dieser Daten vorsieht, einhergeht, ist deshalb als besonders schwerwiegend anzusehen. Der Gerichtshof hebt zudem hervor, dass die Erstellung eines Profils einer Person eine genauso sensible Information darstellt wie der Inhalt der Kommunikation selbst. Dies ist insbesondere in Hinblick auf die österreichische höchstgerichtliche Rechtsprechung interessant, nach der Verkehrsdaten nicht in den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10a Staatsgrundgesetz (StGG) fallen. Verkehrsdaten sind zwar nach Art. 8. EMRK geschützt, bei einem Eingriff in dieses Grundrecht ist aber keine richterliche Genehmigung wie nach Art. 10a StGG erforderlich. Eine Änderung dieser Rechtsprechung, wie wir sie auch im Schriftsatz zur sog. Drittelbeschwerde gegen das Polizeiliche Staatsschutzgesetz argumentiert und angeregt haben, wäre aus datenschutzrechtlicher Sicht äußerst begrüßenswert.
Nach dem vorliegenden Urteil muss eine nationale Regelung, die zur Bekämpfung schwerer Straftaten eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten ermöglicht, hinsichtlich der Kategorien von zu speichernden Daten, der erfassten Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Speicherungsdauer auf das absolut Notwendige beschränkt sein. Zudem muss eine solche Regelung klar und präzise sein und Garantien enthalten, um die gespeicherten Daten vor Missbrauchsrisiken zu schützen. Nur dann steht eine Regelung der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation und den Grundrechten nicht entgegen. Zwar verbietet der Gerichtshof die Vorratsdatenspeicherung nicht generell, er fordert aber sehr klare Einschränkungen und Grenzen für nationale Bestimmungen, die eine Vorratsdatenspeicherung vorsehen. Insbesondere beachtenswert ist die Bedingung der Beschränkung auf einen bestimmten Personenkreis, was der anlasslosen und verdachtsunabhängigen Speicherung der Verkehrsdaten aller Unionsbürger entgegensteht.
Insgesamt begrüßt epicenter.works die Entscheidung des EuGHs, mit der die Freiheits- und Bürgerrechte der Unionsbürger gestärkt werden. Die Ansicht von epicenter.works, dass eine anlasslose und verdachtsunabhängige Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten aller Unionsbürger mit den europäischen Grundrechten nicht vereinbar ist, bekommt neues Gewicht, nachdem der Gerichtshof die Bedingung stellt, dass nationale Regelungen, die eine Vorratsdatenspeicherung vorsehen, auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt sein müssen. Insbesondere ist es erfreulich, dass die Anlassverfahren von Digital Rights Ireland und epicenter.works, die zum Urteil des EuGHs vom 8. April 2014 und zur Annullierung der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie geführt haben, richtungsweisend für eine Rechtsprechung waren, die die Freiheitsrechte der Unionsbürger stärkt (Schrems, Gutachten des EuGHs zum PNR-Abkommen EU-Kanada, Tele2 Sverige AB und Tom Watson u.a).
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