Wir befinden uns in einer Krise, die sich auch in der Justiz deutlich bemerkbar macht. So wurden etwa die COVID-19-Justizbegleitgesetze sowie, darauf beruhend, Verordnungen erlassen und bestehende Gesetze wie die Strafprozessordnung, das Strafvollzuggesetz oder das Verfassungsgerichtshofgesetz geändert. Derartige Maßnahmen sind besonders heikel, weil Gerichte die Grundstruktur unseres Rechtsstaates bilden und schon vor der Covid-19 Krise unter einem besorgniserregenden Personalmangel gelitten haben. Deshalb wollen wir insbesondere dieUmsetzung der Maßnahmen im Justizbereich hier kritisch beleuchten. 

Betroffen sind vor allem drei Grundrechte

Zum Einen das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art 83 Abs 2 B-VG. Das Recht auf Wahrung der gesetzlichen Zuständigkeit ist einerseits dann bedroht, wenn die Gerichte gänzlich schließen, da Ermessenszuständigkeiten und Ausnahmegerichte nicht zulässig sind. §4 COVID19-Justizbegleitgesetz wählt für diesen Fall eine Lösung, die bisher in der Praxis zur Anwendung kommt, wenn alle Richter eines Gerichts befangen sind: Das übergeordnete Oberlandesgericht bestimmt das „Ersatz“-Gericht.

Die Verzögerung der Verfahren und deren Verlagerung auf multimediale Kanäle könnte zu einer Vernachlässigung des Rechts auf Parteiengehör oder der Manduktionspflicht (Anleitungspflicht) führen. Auch die korrekte Zusammensetzung von kollegialen Behörden und deren Willensbildung muss gewahrt bleiben.

Zum Anderen steht das Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 EMRK im Fokus. Es schützt jede natürliche und juristische Person in Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen, sowie die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage. Bei der Durchführung von Unionsrecht wäre auch Art 47 EU-Grundrechte-Charta (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht) anzudenken, da dessen Anwendung nicht auf Straf- und Zivilverfahren beschränkt ist. Zentrale Verfahrensgarantien, wie die Öffentlichkeit des Verfahrens, eine wirksame Verteidigung sowie die der angemessenen Verfahrensdauer sind hier besonders relevant. Einschränkungen müssen einem legitimen Zweck dienen, verhältnismäßig sein und dürfen nicht den Kern dieses Rechts betreffen. 

Im Fokus der Bewertung der erlassenen Maßnahmen muss auch das Grundrecht auf Datenschutz, welches personenbezogene Daten schützt, stehen. Dieses Recht darf durch den Gesetzgeber nur zur Erreichung eines anerkannten Zieles im notwendigen und verhältnismäßigen Ausmaß beschränkt werden. An die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in das Grundrecht auf Datenschutz ist ein sehr strenger Maßstab zu legen. Am Strafrecht lässt sich dies besonders gut veranschaulichen, da hier der Umgang mit personenbezogenen Daten über strafrechtliche Verurteilungen, Inhaftierungen und Straftaten sowie rassische und ethnische Herkunft, genetische Daten, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen alltäglich sind und die Geheimhaltungsinteressen der Betroffenen dementsprechend groß.

Reduzierter Gerichtsbetrieb

Anhörungen und mündliche Verhandlungen finden derzeit nur in Ausnahmefällen statt. Dies unter sorgfältiger Abwägung aller Umstände. Genannt sind etwa die Abwendung einer Gefahr für Leib und Leben, Sicherheit und Freiheit oder eines erheblichen und unwiederbringlichen Schadens. Beispiele sind etwa Obsorgeverfahren, in denen mitunter im Sinne des Kindeswohls schnell entschieden werden muss oder der Bereich des Erwachsenenschutzes sowie Unterbringungen in Anstalten.

Videokonferenzen im Stafverfahren

Jene Verfahren, die weiterhin stattfinden, werden unter Ausschöpfung der technischen Möglichkeiten abgehalten: Mit den Änderungen der Strafprozessordnung wurde die Möglichkeit, auf Videokonferenzen zurückzugreifen, „zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19“ stark erweitert. Es gab schon bisher die Möglichkeit, per Videokonferenz Haftverhandlungen durchzuführen, und zwar aufgrund der räumlichen Entfernung des Inhaftierten. Die Änderungen betreffen vor allem die Vernehmung bei der Untersuchungshaft sowie deren Verhängung, die Haftverhandlung, die Hauptverhandlung in Strafsachen und den Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung beim OGH, bei den OLG und bei den LG (siehe insb §153 Abs 4 bzw. § 286 Abs 1a StPO). Dies wird auch praktiziert: So wurde in Salzburg bereits ein sich in Haft befindlicher Angeklagter per Video-Konferenz verurteilt. An Vernehmungen oder Verhandlungen unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung nehmen außer dem Beschuldigten, der zumeist direkt aus der JA (Justizanstalt) zugeschaltet wird, Richter*innen, Staatsanwält*innen, Verteidiger*innen und evtl. Dolmetscher*innen teil. Der angemessene Rechtsschutz sei dadurch gewahrt, dass in Haftsachen ohnehin notwendige Verteidigung (§61 Abs 1 Z1 StPO) besteht.

In der Praxis wird üblicherweise im Gerichtssaal ein Monitor aufgestellt, auf dem sich eine schwenkende Kamera befindet. Erstes Mittel der Wahl ist derzeit die Videokonferenzlösung „Zoom“. Hier ist besonders auf die datensicherheitstechnischen Aspekte hinzuweisen. Es darf nicht durch Sicherheitslücken möglich sein, dass externe Personen hochsensible Daten von Beschuldigten und Opfern preisgegeben werden. Gerichte wurden in der Vergangenheit bereits Opfer von Hackerangriffen. In vielen Behörden wird derzeit das Video-Conferencing-System Zoom eingesetzt, das auch in der self-hosted Variante noch große Sicherheitslücken aufweist. Unsere Kritik zu Zoom findet ihr hier.

§4 der Verordnung, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 besondere Vorkehrungen in Strafsachen getroffen werden (idF BGBl. II Nr. 138/2020), sieht neben der Erweiterung der Videokonferenzen auch vor, dass der Beschluss über die Aufhebung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft oder der vorläufigen Anhaltung in jenen Fällen auch ohne vorangegangene mündliche Verhandlung schriftlich ergehen kann, in denen im Einzelfall keine Videokonferenz durchgeführt werden kann. Diese Regelung ist besonders heikel und dadurch darf keinesfalls das rechtliche Gehör oder das Recht auf eine angemessene Verteidigung iSd Art 6 EMRK unterlaufen werden.

Auch der Strafvollzug wurde Änderungen unterworfen

So darf eine Verlegung auf die Abteilung und eine Teilnahme am Haftalltag erst nach einem negativen Testergebnis erfolgen. Freigänge bzw. Ausgänge sind derzeit gar nicht möglich. Und auch der Verkehr mit der Außenwelt ist für angehaltene Beschuldigte mit Ausnahme von Vertreter*innen öffentlicher Stellen und Rechtsbeiständen auf telefonische Kontakte beschränkt. Dies stellt zweifelsohne einen Eingriff in das Grundrecht des Art 8 EMRK, auf Achtung des Privat- und Familienlebens, dar; auch das Recht auf freie Meinungsäußerung des Art 10 StGG könnte berührt sein. Zudem wird die Umstellung auf Telefonie und Videocalls statt Haftbesuche wegen der fehlenden technischen Infrastruktur als mangelhaft kritisiert

Forderung nach einem elektronischen Amtstag

Wie wir schon bei der Analyse des ersten Covid-19-Gesetzes forderten, könnte überlegt werden, auch andere Amtshandlungen mittels Videokonferenz möglich zu machen. Beispielsweise werden beim Amtstag durch Gerichtspersonal Anträge entgegengenommen und einfache Rechtsauskünfte erteilt. Derzeit geschieht dies vorwiegend telefonisch, was auch hinsichtlich der Nachverfolgbarkeit und Beweisbarkeit problematisch ist. Beim Amtstag handelt es sich jedoch um eine wichtige Einrichtung unseres Rechtsstaats, durch die Einzelpersonen elementaren niederschwelligen Zugang zu ihrem Recht erhalten sollen.

Ein weiteres Mittel zur Bewältigung sind Umlaufbeschlüsse von Höchstgerichten

§ 10 Abs 1a bis 1d Verwaltungsgerichtshofgesetz sieht dies vor. Die Erklärung kann hier schriftlich oder per E-Mail erfolgen. Auch das Verfassungsgerichtshofgesetz wurde in ähnlicher Weise geändert: § 7 der Abs 3 ermöglicht es, dass die Beratung und Beschlussfassung ebenso im Umlaufweg oder mit Mitteln der Telekommunikation durchgeführt werden kann. Darüber hinaus kann gemäß dem IV. Hauptstück des COVID19-Justizbegleitgesetzes, der/die Vorsitzende in allen Angelegenheiten, die in nicht öffentlicher Sitzung zu entscheiden sind, die Beratung und Abstimmung im Umlaufweg anordnen. (Auf Antrag nur eines Senatsmitglieds ist jedoch eine Senatssitzung anzuberaumen). Auch hier ist es essentiell, mit welchem Tool diese Umlaufbeschlüsse durchgeführt werden. Eine Manipulation von Abstimmungsergebnissen könnte zu schwerwiegenden Folgen für den österreichischen Rechtsstaat führen. Es muss jedenfalls sichergestellt sein, dass es Verfassungsrichter*innen nicht erlaubt ist, ihre Entscheidungen auch über eine WhatsApp- oder Facebook-Gruppe zu treffen.

Home Office

Die Kontaktaufnahme mit den Behörden erfolgt derzeit primär telefonisch oder durch E-Mail. Datensicherheit muss auch hier oberste Priorität haben.  Auch sollen alle Bediensteten, deren Anwesenheit zur Aufrechterhaltung des Gerichtsbetriebs im erforderlichen Mindestmaß nicht unbedingt erforderlich ist, von zu Hause aus arbeiten. Hier rächt es sich jetzt, dass die Justiz immer noch größtenteils mit Papierakten arbeitet. Der ELAK (Elektronischer Akt), das System der elektronischen Aktenverarbeitung, bzw. VJ (Verfahrensautomation Justiz, eine Datenbank, die alle Akteninhalte und Verfahrensschritte eines Aktes erfasst) wird derzeit nur an einigen wenigen Gerichten, wie dem HG Wien oder dem BG Meidling als „Pilotprojekt“, genutzt. Dieser wäre jedoch gerade in diesen Zeiten eine sichere Möglichkeit der Aktenverwaltung. Jedoch üblich sind weiterhin Papierakte, oder auch die sogenannten „Tagebücher“ der Staatsanwaltschaft. Dies hat zur Konsequenz, dass viele Mitarbeiter*innen, seien es Richter*innen, Staatsanwält*innen, Richteramtsanwärter*innen oder Praktikant*innen weiterhin regelmäßig persönlich erscheinen müssen. Das erforderliche Mindestmaß an persönlicher Anwesenheit wäre bei flächendeckender Nutzung des ELAK wesentlich geringer.

Erleichterung geschaffen hat Anfang April zumindest eine große Neuerung: Die Schaffung der Möglichkeit des Fern-Zugriffs auf Rechtsdatenbanken, Mails, das Firmenbuch, Grundbuch und ähnliche Dienste für Justizmitarbeiter*innen. Die Authentifizierung funktioniert via Bürgerkarte, verwaltet wird das Ganze von A-Trust. Den Richter*innen am BG Hietzing steht daneben die Nutzung eines hausinternen Netzwerks offen, über welches Dokumente mit der zuständigen Kanzlei geteilt werden können, welche sich dann deren Abfertigung annehmen. Innerhalb dieses Netzwerks hat jeder Zugriff auf bestimmte Ordner. Jedoch verpflichtet sich Vertragsbedienstete gemäß § 5c Abs. 1 Z 3 Vertragsbedienstetengesetz, bei Telearbeit die für die Wahrung der Datensicherheit, Amtsverschwiegenheit und anderer Geheimhaltungspflichten erforderlichen Vorkehrungen zu treffen. Eine Haftung für die Nutzung von Tools, die offener Kritik wegen Datenschutzverletzungen ausgesetzt sind, auf Angestellte überzuwälzen, ist jedenfalls fahrlässig.

Insbesondere da Bedienstete häufig via Privathandy kommunizieren. Am „Landl“ (Landesgericht für Strafsachen) werden die Rechtspraktikant*innen beinahe ausschließlich über ihre Privatmailadressen kontaktiert. Auch läuft der Austausch unter Kolleg*innen auch gerne über WhatsApp Gruppenchats. Es ist untragbar, dass sensible Daten der Justiz über ausländische Server laufen, die nicht dem europäischen Datenschutzregime unterliegen. Da Whatsapp auf die persönlichen Daten von Personen (gespeicherte Telefonnummern) ohne deren Zustimmung zugreift, stellt eine Nutzung von Whatsapp in einem beruflichen Zusammenhang eine massive Verletzung des Grundrechts auf Datenschutz dar. Auch wenn Strafen nach den gesetzlichen Datenschutzbestimmungen für Behörden nicht vorgesehen sind, ist dieser dennoch zu achten!

Kollateralschaden

Ein Großteil der verfahrensrechtlichen Fristen, sowohl in den Verwaltungs-, als auch Zivil- und Strafverfahren, wurden unterbrochen und beginnen mit 1. Mai 2020 neu zu laufen. Es jedoch festzuhalten, dass zahlreiche Ausnahmen bestehen: So etwa Verfahren, in denen der/die Beschuldigte in Haft angehalten wird. (Gegenausnahme §276a, zweiter Satz StPO) Durch das 4.COVID-19-Gesetz wurde sowohl klargestellt, dass der 1. Mai bei der Berechnung dieser Fristen nicht mitzurechnen ist, als auch, dass gewisse andere Fristen wie etwa Verjährungsfristen, jene für verfahrensleitende Anträge oder Anklageerhebung nur gehemmt sind, hier also die Zeit bis inkl 30.4.2020 nicht miteinberechnet wird. Bemerkenswert ist hier, dass diese Bestimmungen rückwirkend mit 22.3.2020 in Kraft traten.

Angemerkt sei jedoch, dass die Unterbrechung der diversen Fristen, nichts daran ändert, dass jegliche Verfahren grundsätzlich weiterzuführen sind. So wäre es durchaus denkbar, dass etwa Urteile im Home Office formuliert werden. Der faktische Stillstand in vielen Verfahren ist de facto dadurch bedingt, dass bis auf in Ausnahmefällen (siehe oben) keine Verhandlungen durchgeführt werden.

Was hierbei Sorge bereitet ist, dass die Justiz ohnehin chronisch unterfinanziert ist. Diese Überbelastung, ist vor allem einem Mangel an personellen Ressourcen geschuldet. Nicht nur Richter*innen und Staatsanwält*innen wurden nicht nachbesetzt, derzeit ist der Personalmangel insbesondere bei den Kanzlei- und Schreibkräften spürbar. Dies wird derzeit dadurch potenziert, dass Rechtspraktikant*innen in vielen Sprengeln derzeit gar nicht beginnen dürfen, jene, die ihre Praxis unterbrochen hatten, diese zur Zeit nicht fortsetzen dürfen und Aktive teilweise, wie im Sprengel des OLG Wien, für 12 Tage freigestellt werden oder deren Praxis generell unterbrochen wurde.

Der Umstand, dass Verfahren in Österreich bereits jetzt eine nicht unerhebliche Dauer aufweisen, wird somit durch den unausweichlichen Rückstau nicht abgearbeiteten Verfahren noch verstärkt werden. Derartige Verfahrensverzögerungen, sind hinsichtlich Art 6 EMRK (s.o.) nicht unproblematisch. Deshalb ist es unausweichlich, dass heute schon mit Hochdruck Vorkehrungen für den zu erwartenden Verhandlungsmarathon getroffen werden müssen, mit dem Ziel, den bereits jetzt gebildeten Aktenbergen, nach Wiederaufnahme des normalen Verhandlungsbetriebes, Herr zu werden.

Übersicht über die Beschränkungen in der Justiz: https://www.justiz.gv.at/home/covid-19~7a5.de.html

 

Autorin: Mag. Nicola Onome Asiemo

Mitarbeit und Recherche: Mag. Teresa Schwaninger und Lisa Seidl, LL. M.

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