• Wichtige Grundsätze des Strafrechts – u.a. „im Zweifel für den Angeklagten“ – wurden nicht ausreichend berücksichtigt
  • Wir sind gespannt auf die Urteilsbegründung“: Amnesty International und epicenter.works sehen Einschüchterungsversuche und abschreckenden Effekt auf zukünftige Aufdecker*innen
(30.03.2022) Angesichts des heute erfolgten Schuldspruches zu einer unbedingten Freiheitsstrafe zu 3,5 Jahren – das Urteil ist noch nicht rechtskräftig - im Prozess gegen Julian H., dem Urheber des „Ibiza-Videos“, äußern Amnesty International und epicenter.works, die den Prozess von Anfang an beobachtet haben, Bedenken, dass der  Gerichtsentscheid politisch motiviert sein könnten und zu einer Einschränkung der Meinungs-, Presse-, Informationsfreiheit führen werde. „Der enorme Aufwand, mit dem Julian H. verfolgt wurde und die Tatsache, dass in unseren Augen berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Belastungszeug*innen offenbar nicht ausreichend gewürdigt wurden, lässt uns vermuten, dass es sich hier um ein politisch motiviertes Urteil handelt, um eine abschreckende Wirkung auf zukünftige Aufdecker*innen zu erzielen“, so Thomas Lohninger, Geschäftsführer von epicenter.works. Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International, ergänzt: „Wir warten mit Spannung auf die Urteilsbegründung. Derzeit stellt es sich für uns so dar, dass die Veröffentlichung von Informationen in Österreich, die von öffentlichem Interesse sind, unerwünscht ist. Aufdecker*innen – das betrifft auch Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen – müssen anscheinend mit persönlichen negativen Konsequenzen rechnen, wenn sie sich frei äußern wollen.“ Bereits im Vorfeld des gerichtlichen Hauptverfahren hatten die beiden Organisationen kritisiert, dass die Ermittlungen auf teils konstruierten Vorwürfen basieren, die dazu genutzt wurden, den Aufdecker zu diskreditieren und seiner Person habhaft zu werden.
 
Verfahren äußerst problematisch
Auch abseits der Urteilsverkündung kritisieren die beiden Organisationen, dass bei dem Prozess wichtige Grundsätze des Strafprozesses nicht eingehalten wurden. Allein die Dauer der Untersuchungshaft von über einem Jahr sei menschenrechtlich äußerst problematisch, und stelle insbesonders vor dem Hintergrund der im Hauptverfahren aufgekommenen Beweislage durch widersprechende Zeug*innenaussagen einen massiven Eingriff in die persönliche Freiheit dar.  Auch das Oberlandesgericht (OLG) Wien hat bereits entschieden, dass der bei Haftsachen geltende besondere Beschleunigungsgrundsatz nicht eingehalten wurde. Außerdem hätte nach Ansicht von Amnesty International und epicenter.works der Grundsatz In dubio pro reo („Im Zweifel für den Angeklagten“) gelten müssen. Demnach muss immer dann, wenn ein Umstand nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, die für den*die Angeklagte*n günstigere Tatsache angenommen werden. „Während des Prozesses sind viele Zweifel aufgekommen. Insbesondere die Hauptbelastungszeug*innen haben sich mehrfach gegenseitig als auch sich selbst in ihren Darstellungen widersprochen und schließlich wechselseitig der Lüge bezichtigt. Es wurden durch ihre Befragungen in Summe mehr Fragen aufgeworfen, als geklärt werden konnten.  Und es gab keine weiteren Beweise gegen den Beschuldigten außer den Aussagen der zwei Zeug*innen, an die es unbestrittene Zahlungen in fünfstelliger Höhe aus dem Umfeld des Glückspielkonzerns Novomatic gab.“, so Thomas Lohninger.
 
Österreich säumig bei der Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie
„Das Ibiza-Video von Julian H. hat Sachverhalte ans Tageslicht gebracht, die Korruption und Rechtsstaatlichkeit in Österreich betreffen. Das Aufdecken dieser Informationen ist von der Meinungsfreiheit gedeckt und damit durch Art. 10 EMRK geschützt“, betont Annemarie Schlack und stellt klar, „dass bei allem Vertrauen in eine unabhängige Justiz es durchaus erlaubt sein muss, Fragen zu stellen. Nämlich warum die Strafverfolgung so überbordend war, warum die Zweifel an den Aussagen der Zeug*innen nicht stärker berücksichtigt wurden und warum es offenbar so wichtig ist, hier ein Exempel zu setzen.“ 
„Die Optik des Verfahrens ist verheerend für die Unabhängigkeit der Justiz in Österreich und für das Vertrauen in den Rechtsstaat“, fasst Thomas Lohninger zusammen. „Es ist ein weiterer Puzzlestein in einem Bild, das einen denkbar schlechten Schutz von Aufdecker*innen Österreich zeigt.“ Erst Anfang des Jahres wurde bekannt, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich wegen fehlender Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Whistleblower*innen einleitete. „Die Frist dafür war Mitte Dezember – bis dato liegt nicht einmal ein Gesetzesentwurf zur Begutachtung vor“, kritisieren Annemarie Schlack und Thomas Lohninger unisono.
 
In Kürze:
Nach über einem Jahr Untersuchungshaft und sechs Verhandlungstagen seit September 2021 wurde Julian H., der Urheber des „Ibiza-Videos“, heute in St. Pölten verurteilt. Vorgeworfen werden ihm Drogen- und Urkundendelikte. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Amnesty International und epicenter.works, die den Prozess von Anfang an beobachtet haben, äußern massive Bedenken angesichts des Urteils und zeigen sich besorgt über den abschreckenden Effekt des Schuldspruchs auf zukünftige Aufdecker*innen und die Ausübung der Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit in Österreich. So äußerten die beiden Organisationen die Kritik, dass bereits die Ermittlungen im Vorfeld des Gerichtsverfahrens auf teils konstruierten Vorwürfen basierten, die dazu genutzt wurden, den Aufdecker zu diskreditieren und seiner Person habhaft zu werden. Zusätzlich kritisieren sie, dass wichtige Grundsätze des Strafprozesses augenscheinlich nicht eingehalten wurden, wie etwa „im Zweifel für den Angeklagten“, nachdem die beiden Hauptbelastungszeug*innen sich mehrfach gegenseitig und sich selbst in ihren Aussagen widersprochen haben.
 
Deshalb ruft epicenter.works für morgen Donnerstag zur Demo gemeinsam mit der Initiative saubere Hände und der Donnerstagsdemo. Wir treffen uns um 18 Uhr am Platz der Menschenrechte in Wien bei jedem Wetter. 
 
 

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