Das Wiener Manifest für digitalen Humanismus ruft zum Nachdenken und vor allem zum Handeln auf, denn unsere Gesellschaft verändert sich mit den technologischen Entwicklungen und das wird zukünftig nur mehr werden.

Digitale Technologien verändern die Gesellschaft fundamental und stellen unser Verständnis in Frage, was unsere Existenz als Menschen ausmacht.

Social Media Plattformen und neueste digitale Technologien haben in der Tat unser Leben in vielerlei Hinsicht verändert. Wir sind stets erreichbar und verfügbar, das beeinflusst unsere Lebensweise, wie wir kommunizieren und arbeiten. Die Veränderungen sind tiefgreifend und wirken sich auch stets auf unser Selbstbild als Menschen aus. 

Aus dem technologischen Wandel erwachsen zahlreiche neue Möglichkeiten zur Datensammlung: Durch unsere tägliche Nutzung verschiedenster Anwendungen und Apps, die auf weite Teile unseres Lebens zugreifen, steht so eine noch nie dagewesene Ressource zur Verfügung: extrem genaue Daten darüber, wo wir sind, was wir tun, wen wir kennen, mit wem wir reden, was uns interessiert, was wir kaufen und welche Fragen wir uns stellen. 

Die Verfügbarkeit einer solch verführerischen Datenmenge öffnet eine Bandbreite an Möglichkeiten zu ihrer Verwendung. Jedoch kam diese Entwicklung Schritt für Schritt und schleichend daher, wir haben als NutzerInnen keinen Schlüsselmoment gehabt, wo wir die bewusste Entscheidung trafen: » OK, wir beschließen unsere Daten komplett freizugeben. Für uns als Menschen bedeutet das, dass jeder Aspekt unserer Existenz in Zahlen umgewandelt wird und dann kommodifiziert werden kann! Passt, samma dabei!«

Seit Jahren versuchen Interessenvertretungen und NGOs mit den Themen Datenschutz und Privatsphäre die NutzerInnen zu sensibilisieren und diese Schlüsselmomente, also proaktive Entscheidungen darüber, was mit den eigenen Daten passiert, bei Einzelnen hervorzurufen. Das Thema hat sicherlich sehr viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Sogar die Social Media Plattformen ermutigen einen dazu, die eigenen Posts nur mit einer gezielten Gruppe von Menschen zu teilen, die Privatsphäreneinstellungen anzupassen. Der Jugendschutz der Anbieter beinhaltet die Aufforderung an die Jugendlichen, besser auf die Inhalte ihrer Fotos und Videos zu achten. Diese »Bemühungen« werden weitgehend als positiv gewertet. Es ist aber nichts weiter als ein privacy-green-washing der Anbieter. Die Verantwortung wird gänzlich  in die Hände der einzelnen NutzerInnen gelegt. Die Anbieter vergessen dabei zu erwähnen, dass, wenn wir unsere vorsichtig ausgewählten Fotos und Posts auf privat schalten, sie nicht aufhören werden, uns auf Schritt und Tritt im Netz zu verfolgen, wo wir es gar nicht vermuten. Die Tech-Giants räumen uns Scheinrechte innerhalb ihres Systems ein. Dieses System ist eine Maschinerie, die sie gestalten, wir dürfen uns darin dann einreihen.

Doch die "Ko-Evolution von Technologie und Mensch" verlangt mehr. Unsere Mediennutzung, unser Lebensrhythmus und die Definition davon, was es heißt, ein Mensch zu sein, verändern sich. Wir können die moralische Verantwortung nicht auf einzelne NutzerInnen abwälzen. 

Der technologische Shift ist so enorm, wir brauchen einen moralischen Shift, der mithalten kann. Wir müssen mit der Zeit gehen, das bedeutet, mit den Veränderungen der Technologie voranzuschreiten, aber wir müssen auch fähig sein und die Möglichkeit haben, auf diese Veränderungen in unserer Gesellschaft Einfluss zu nehmen – wir sind ihnen nicht ausgeliefert.

Wir müssen erneut die gemeinsamen Werte ausverhandeln, uns auf ein gemeinsames Terrain einigen. Daran appelliert auch das Manifest für digitalen Humanismus: " Im Zentrum steht der Ruf nach Aufklärung und Humanismus." Die VerfasserInnen rufen dazu auf, humanistische Ideale mit einer kritischen Reflexion des technischen Fortschritts zu kombinieren, das ist ein ehrenwertes und sinnvolles Ziel. 

Was passiert aber, wenn wir den Mut haben, noch weiter zu gehen und kritischer und systemischer zu fragen? Das Problem ist ein anderes. Wir diskutieren einzelne Details im Interface und den Funktionen der Plattformen und Technologien – klar sollte es die Option geben, geheime Gruppen zu machen, die eigenen Inhalte nur für Freunde sichtbar zu machen und in den Einstellungen Cookies abzuschalten.

Wenn wir uns aber doch auf Privatsphäre als etwas Schützenswertes geeinigt haben, die Demokratie als erstrebenswert sehen und Inklusion und den Kampf gegen Diskriminierung als zentral für unsere Werte betrachten, dann sind wir gezwungen, sehr viel kritischere Fragen zu stellen. 

Privatsphäre und Redefreiheit sind Grundwerte, die im Mittelpunkt unserer Aktivitäten stehen sollen. Daher müssen Strukturen wie soziale Medien oder Online-Plattformen derart geändert werden, dass freie Meinungsäußerung, Verbreitung von Informationen und Privatsphäre besser geschützt sind.

Was, wenn wir uns trauen nicht nur eine Änderung der Plattformen und Strukturen zu fordern, sondern laut hinterfragen, ob die Geschäftsmodelle dieser Unternehmen tragbar sind.

Ist der Verkauf persönlicher Daten, um den neoliberalen Selbstoptimierungsdruck mithilfe von Werbung zu erhöhen, tragbar? Werbung, die uns perfekt zugeschnitten Produkte für unsere » Problemzonen« anzudrehen versucht und uns immer mehr Geräte verkauft, die uns immer effizienter und noch messbarer machen? 

Ist der Verkauf persönlicher Daten an staatliche Institutionen zumutbar? 

Ist es tragbar, dass Tech-Giants immer reicher werden, weil sie uns ausspionieren und mediale Plattformen für Hetze und demokratiefeindliche Eingriffe bieten? 

Zurzeit hinterfragen wir ihre Praktiken. 

Es gilt das gesamte Konzept dieser Geschäftsmodelle und deren Existenz in Frage zu stellen. 


epicenter.works hat das Wiener Manifest zum Digitalen Humanismus unterzeichnet und zählt sich zu den UnterstützerInnen dieser Initiative

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