Steiermärkisches Sozialhilfegesetz: wenn Selbstbestimmung durch Stigmatisierung beseitigt wird
Zusammen mit dem Arbeitskreis Existenzsicherung Steiermark haben wir uns intensiv mit dem im Juli 2021 in Kraft getretenen Steiermärkischen Sozialunterstützungsgesetz beschäftigt. Das Gesetz von ÖVP und SPÖ birgt nicht nur eine Stigmatisierung bedürftiger Personen, sondern weist auch noch besorgniserregende datenschutzrechtliche Mängel auf. Bereits im Juli 2021 haben wir mit einer juristischen Stellungnahme auf die vorhandenen Defizite hingewiesen. Ohnehin vulnerable Personen werden aber weiterhin stigmatisiert und deswegen haben wir heute zusammen mit einer starken Koalition aus 25 Organisationen und 33 individuellen Unterschriften einen offenen Brief an den steirischen Landeshauptmann, an die Steiermärkische Landesregierung und an den Landtag Steiermark geschickt. Im Brief rufen wir alle Parteien dringend zu einer Novellierung des Gesetzes auf.
Datenschutzproblematik durch Sachleistungen
Gemäß unseren Vereinsstatuen ist einer unserer Hauptkritikpunkte an der neuen Gesetzgebung die mangelhafte Garantie zur Wahrung des Datenschutzes bzw. die Eingriffe in die Selbstbestimmtheit der eignen Daten. Unterstützungsleistungen werden vorrangig als Sachleistungen erbracht - das ist besorgniserregend. Damit werden armutsbetroffene Menschen nicht nur stigmatisiert, sondern auch noch entmündigt. Beispielsweise wird der Wohnkostenanteil nicht direkt an die hilfsempfangende Person ausbezahlt, sondern an die Vermietenden. Das mag auf den ersten Blick harmlos und arbeitseffezient aussehen, denn es bedeutet einen Überweisungsschritt weniger. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Hilfsempfänger*innen werden durch das neue Gesetz nämlich implizit gezwungen, dem Land Steiermark den/die Vermieter*in bekannt zu geben. Dadurch erfährt die vermietende Person aber gezwungenermaßen, dass Mieter*innen Sozialhilfe beziehen. Möchte man das als betroffene Person vermeiden, bleibt als Alternative eigentlich nur, auf die oftmals signifikante Hilfeleistung durch das Land Steiermark zu verzichten. Datenschutz und Privatsphäre also nur für die, die es sich leisten können? Wer hilfsbedürftig ist, hat jedoch leider keine Wahl und jede/r, der/die schon einmal auf Wohnungssuche war, weiß: Ein Mietverhältnis kommt eigentlich nur zustande, wenn der finanzielle Hintergrund "gut aussieht" beziehungsweise eine allfällige Bürgschaft vorhanden ist. Gut möglich also, dass als Konsequenz dieses Gesetzes Mietverhältnisse mit sozial schlechter gestellten Personen wohl vermehrt überdacht und aufgelöst werden könnten - die Konkurrenz durch sozial Bessergestellte auf dem Wohnungsmarkt ist ohnehin groß genug.
Mitwirkungspflicht bei Datenerhebung: Daten oder Strafe
Um die Hilfsbedürftigkeit und Arbeitsfähigkeit festzustellen, können Informationen von öffentlichen Stellen und Privaten eingeholt werden, die weder klar abgegrenzt noch ausreichend definiert sind. Auch schließen sie sensible Daten der Bereiche Gesundheit, Privat- und Familienleben ein. Im Fall von Auskünften durch Private können das Arbeitgebende, Vermietende oder die Hausverwaltung sein. Eine Möglichkeit, dass die antragstellende Person dieser Datenerhebung widerspricht, bietet das Gesetz übrigens nicht. Ganz im Gegenteil: Eine Verweigerung der Auskunft stellt eine Verwaltungsübertretung dar und der Dienst- oder Unterkunftsgebende der hilfsbedürftigen Person muss mit einer Geldstrafe von bis zu 400€ rechnen. Ganz nebenbei erfahren die jeweiligen Einrichtungen natürlich auch von der Hilfsbedürftigkeit der Antragsteller*innen.
Ebenfalls unersichtlich ist, unter welchen Umständen das Einholen von Informationen durch die Behörde bei Dritten überhaupt zulässig ist. Wir fürchten, dass das zu einer willkürlichen Datenerhebung führen wird. Warum dieses Kontrollinstrument geschaffen wurde, erschließt sich uns nicht, denn zum Nachweis der Hilfsbedürftigkeit müssen antragstellende Personen ohnehin Unterlagen abgeben und Sanktionsmöglichkeiten, bei Zuwiderhandeln oder bei einer Darstellung falscher Tatsachen bestehen sowieso schon.
Menschenwürde darf kein Luxus sein!
Aus unserer Sicht haben die neuen gesetzlichen Bestimmungen die ausdrücklich definierten Ziele der Sozialunterstützung - nämlich beizutragen zur Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts und zur Befriedigung des Wohnbedarfs der Bezugsberechtigten sowie die Förderung der dauerhaften (Wieder-)Eingliederung in das Erwerbsleben - weit verfehlt. Menschen in prekären Lebenssituationen werden in der Steiermark nunmehr bloßgestellt und ausgegrenzt. Betroffene dürfen aber nicht in die Bredouille kommen, ihre Privatsphäre gegen finanzielles Überleben zu tauschen.
Die Würde des Menschen ist das Fundament aller Grund- und Menschenrechte. Es kann nicht sein, dass ein Gesetz, das eigentlich sozial Schwachen Hilfestellung leisten und ihr (finanzielles) Überleben sichern soll, dieses elementare Grundrecht akut zu untergraben droht und damit zu einer Stigmatisierung bedürftiger Personen sowie zu einer Isolation gegenüber ihrem Umfeld führt. Menschen dürfen nicht aufs Abstellgleis gestellt werden, schon gar nicht, wenn das Gesetz eigentlich genau das Gegenteil bewirken sollte.
Weitere Informationen
Zum offenen Brief: https://epicenter.works/document/3749
Zur juristischen Stellungnahme: https://epicenter.works/document/3528
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