Ohne Verschlüsselung kein Grundrecht auf vertrauliche Kommunikation
Die EU-Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet (auch bekannt als „Chatkontrolle“) ist mitten in den Endverhandlungen angekommen. Das EU-Parlament könnte schon sehr bald über den Entwurf abstimmen. Wir freuen uns daher umso mehr, dass wir als Stimme der Zivilgesellschaft gehört werden. Zwei unserer Kolleg:innen waren vergangene Woche in Brüssel und haben Gespräche mit österreichischen EU-Abgeordneten aus der Fraktion der Sozialdemokraten (S&D), Grünen (Greens/EFA), Liberalen (RENEW) und der Europäischen Volkspartei (EPP) geführt. Unser Ziel war es, den Politiker:innen in dieser wichtigen Phase noch einmal persönlich klar zu machen: Das vorgeschlagene Gesetz ist nicht geeignet Kinder online zu schützen. Im Gegenteil, es gefährdet uns alle, indem es das Grundrecht auf vertrauliche Kommunikation massiv untergräbt. Der europäischen Rechtsstaatlichkeit könnte das einen beispiellosen Schaden zufügen.
Das erklärte Ziel Kinder zu schützen ist wichtig. Die vorgeschlagenen Mittel sind aber nicht nur gefährlich und höhlen unsere grundlegendsten Rechte aus, sie sind auch ineffektiv. Neben der breiten Kritik von Zivilgesellschaft, EU- und UN-Institutionen, Behörden und vielen weiteren haben nun selbst im Rat der EU einige Mitgliedstaaten verstärkt Vorbehalte gegen den Gesetzesvorschlag angemeldet. Andere drängen aber immer noch auf die Einführung von umfassender Massenüberwachung durch das geplante Gesetz.
Auch die EU-Kommission hält trotz der fundamentalen Kritik und den Aufdeckungen über ein riesiges Lobbynetzwerk aus Technologiefirmen, Stiftungen, Sicherheitsbehörden und PR-Agenturen vehement an ihrem Gesetzesvorschlag fest. Letzte Woche wurde zudem ein weiterer Skandal bekannt: Statt endlich eine neutrale Verhandlungsposition einzunehmen, schaltete die EU-Kommission gezielte, illegale Werbung (u.a. auf Basis von religiösen und politischen Einstellungen) in den EU-Ländern, die der Chatkontrolle kritisch gegenüber standen – einen Tag nachdem klar war, dass der irreführende Vorschlag unter den Mitgliedsstaaten im Rat der EU keine Mehrheit finden wird. Der Vorfall wird nun vom Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDPS) untersucht.
Dieser gefährliche Gesetzesentwurf droht also nach wie vor de facto eine Spionagesoftware auf jedem Gerät zu installieren und die Überwachung der privaten Kommunikation mit Freunde:innen, Kolleg:innen und Familien zu ermöglichen – selbst wenn diese Ende-zu-Ende verschlüsselt ist.
Teil einer allgemeinen Entwicklung
Das ist Teil einer allgemeinen (nicht nur) europäischen Entwicklung, im Zuge derer die Polizei ganze Kommunikationsnetzwerke hackt und Menschen verhaftet, verhört oder gar angeklagt werden, weil sie verschlüsselte Tools verwendet oder Trainings für digitale Kompetenz besucht haben. Journalist:innen und politische Gegner:innen werden mit Spionagesoftware ausgehorcht, was ihre Sicherheit gefährdet und sie daran hindert, Machtmissbrauch zu bekämpfen. Der politische Druck von Staaten und Strafverfolgungsbehörden für Überwachungsmaßnahmen und Hintertüren in unsere intimsten Sphären verstärkt sich. So fordert z.B. die EU-Polizeibehörde Europol jetzt schon heimlich, die Messengerüberwachung auszuweiten, obwohl das Gesetz zur Chatkontrolle erst noch hitzig verhandelt wird.
Diese Entwicklungen treffen uns alle. Besonders gefährden sie v.a. Personengruppen wie Journalist:innen, Rechtsanwält:innen, Frauenaktivist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen, Sexarbeiter:innen oder Bürger:innen, denen einfach ihre Privatsphäre wichtig ist. Verschlüsselung zu verhindern und ihre Anwendung zu kriminalisieren, wird die tiefgreifenden gesellschaftlichen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, nicht lösen. Stattdessen sollten die Regierungen genau jenes Instrument, das unsere digitale Sicherheit gewährleistet, schützen und fördern.
Wie sehen die aktuellen Angriffe auf die Verschlüsselung aus?
Seit Jahrzehnten setzen sich Staaten für die Schaffung von Hintertüren ein, die ihnen „speziellen Zugang“ zu verschlüsselten Daten geben. Erfolglos. Gestern machte sich der österreichische Innenminister Gerhard Karner erneut für den Zugriff auf verschlüsselte Messengerdienste stark und erst vor wenigen Monaten forderte die österreichische Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) die Unterwanderung verschlüsselter Kommunikation. In Österreich ist staatliches Hacken mit Bundestrojanern aber zum Glück verfassungswidrig. Aufgrund unseres Einsatzes hat der Verfassungsgerichtshof 2019 nämlich ein klares Urteil gegen Bundestrojaner gesprochen.
Heutzutage wenden sich die Staaten vermehrt an Unternehmen, um diese mit dem Scannen all ihrer Inhalte und dem Finden von unerwünschten Inhalten zu beauftragen. Das prominenteste Beispiel dafür ist aktuell besagter Gesetzesvorschlag, der angeblich die Verbreitung von Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs bekämpfen soll. Was die Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet aber stattdessen macht, ist, unsere Handys oder Smart Watches in Spionagegeräte zu verwandeln. Egal ob du unter Verdacht stehst, ein Verbrechen begangen zu haben oder nicht, du und die anderen hunderten Millionen Menschen, die in der EU leben, wären von diesen Maßnahmen betroffen. Die spanische und zypriotische Regierung haben klar gemacht, dass sie dieses Gesetz als Chance sehen, breiten Zugang zu den privaten, verschlüsselten Nachrichten der Bevölkerung zu bekommen. Und damit nicht genug, Spanien fordert sogar ausdrücklich ein Verbot von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.
Die Dämonisierung von Verschlüsselung zeigt sich auch immer öfter in den repressiven Maßnahmen von Staaten gegen Aktivist:innen. In Frankreich wurden z.B. sieben Personen angeklagt, weil sie verschlüsselte Tools verwendet haben. Triviale Fakten, wie das Verwenden von Signal oder anderen üblichen verschlüsselten Apps oder gängigen Tools, die die digitale Anonymität schützen, wie z.B. das TOR-Netzwerk, oder das Besuchen von Schulungen zur digitalen Sicherheit, werden als Beweis dafür verwendet, dass sie versuchen, kriminelle Aktivitäten zu verbergen.
Darüber hinaus zögern die EU-Staaten, den gefährlichen Markt für Spionagetechnologien endlich einzuschränken. Den Markt, den Edward Snowden, der Ex-NSA-Agent, der vor 10 Jahren die weitreichenden Spionageaktivitäten der USA aufdeckte, „Insecurity Industry“ taufte. Eben dieser Markt ist mittlerweile außer Kontrolle geraten. Er hat u.a. die extrem übergriffige Software „Pegasus“ hervorgebracht, die ein Handy in ein 24-Stunden Spionagegerät verwandelt und alles hören und sehen kann, was sein:e Besitzer:in tut. In Spanien wurden mindestens 65 Menschen direkte Opfer von diesem Tool, ganz zu schweigen von den tausenden weiteren Nebenopfern. Das ist der größte Fall von bewiesener Cyber-Überwachung in der Geschichte. Trotzdem wird nichts getan um die Produktion, den Verkauf und die Verwendung von solcher Spionagesoftware wirksam zu stoppen.
Letztes Jahr machte auch ein österreichisches Unternehmen namens „DSIRF“ mit seinem Spionagetool „Subzero“ Schlagzeilen, weil es Spuren auf Geräten in mehreren Ländern hinterlassen hatte: Unternehmensberatungen, Rechtsanwaltskanzleien und Banken, u.a. in Großbritannien, Panama und Österreich. Wir haben gleich reagiert und haben bei der Staatsanwaltschaft Wien Strafanzeige eingebracht.
Privatsphäre ist Selbstermächtigung, Überwachung gefährdet uns alle
Angesichts solcher Attacken ist es umso wichtiger, Verschlüsselung und die digitale Sicherheit von uns allen zu schützen. Verschlüsselung ermöglicht vertrauliche Kommunikation. Sie ermöglicht es uns, sicher zu arbeiten, uns auszutauschen und zu organisieren.
Online-Räume sind besonders auch für junge Menschen von entscheidender Bedeutung, um ihre eigene Identität zu erkunden, ihre Meinungen und Überzeugungen zu bilden und sich mit anderen auszutauschen. Es ist nur dann möglich, Social Media, Direktnachrichtendienste und Videospiele zu sicheren Orten für junge Menschen zu machen, wenn private Unternehmen und Regierungen die Integrität und Privatsphäre dieser Räume respektieren.
80% der jungen Menschen würden sich erwiesener Maßen nicht wohl dabei fühlen, ihre Sexualität zu erkunden oder sich politisch zu engagieren, wenn die Behörden ihre digitale Kommunikation überwachen könnten.
Angesichts der schwerwiegenden Folgen für das Leben vieler Menschen und unsere Demokratie ist es es essenziell, dass unser aller Privatsphäre gesichert ist. Die EU-Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet könnte jedoch Verschlüsselung unterwandern und eine noch nie dagewesene Massenüberwachung ermöglichen. In Kürze könnte das Europaparlament bereits über diesen Gesetzesentwurf abstimmen. Damit haben die Abgeordneten die einzigartige Chance, unser Vertrauen in sichere private Kommunikation abzusichern, indem sie den Entwurf ablehnen.
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