Die EU-Netzneutralitätsverordnung 2015/2120 bildet die rechtliche Grundlage für die derzeit in Kraft befindlichen Instrumente zum Schutz der Netzneutralität innerhalb der EU. Die Verordnung sah eine Überprüfung der Reglungen zur Netzneutralität bis zum 30. April 2019 – also etwa dreieinhalb Jahre nach deren Inkrafttreten – vor. Während die Europäische Kommission entschieden hat, die Verordnung nicht zu novellieren, hat sich das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (BEREC) dazu entschlossen, die Leitlinien zur Umsetzung für nationale Regulierungsbehörden zu aktualisieren. Diese neuen Leitlinien wurden nun veröffentlicht.

5G Network-Slicing und Spezialdienste

In den letzten Monaten hat sich die europäische Debatte zur Netzneutralität oft um die Einführung von 5G, einer neuen Generation von Mobilfunkstandard, gedreht. Der Grund dafür ist, dass 5G Betreibern neu geschaffene Wege bietet, den über ihre Netzwerke übermittelten Datenverkehr differenziert zu behandeln. Insbesondere umfasst 5G eine Technologie namens „Network Slicing“, wobei ein und dieselbe Infrastruktur dazu verwendet wird, mehrere virtuelle Netzwerke mit unterschiedlichen Service-Qualitäten bereitzustellen. Ein „Slice“ (deutsch: Scheibe, Stück) bezeichnet dabei eines dieser multiplen virtuellen Netzwerke. Ein solches „Slice“ könnte beispielsweise auf eine sehr niedrige Latenzzeit optimiert werden, eine minimale Bandbreite garantieren oder auf Mobilgeräten Kommunikation mit besonders geringem Energiebedarf erlauben. 

Gerätehersteller wie Ericsson und Nokia haben diese neuen Funktionen von 5G gegenüber Netzbetreibern mit dem Argument beworben, 5G erlaube es ihnen, neue Produkte über „Vertikalen“ zu erschaffen. Damit ist gemeint, dass Netzbetreiber Partnerschaften mit Anbietern spezifischer Anwendungen eingehen könnten, um ein Gesamtprodukt für eine bestimmte Zielgruppe an Kund*innen zu entwickeln. Zum Beispiel könnten sich Netzbetreiber mit Herstellern von Wettersensoren zusammenschließen und gemeinsam Sensoren, Wetterbeobachtungssoftware und das dazu notwendige „Slice“ als Gesamtpaket an große Landwirtschaften verkaufen, die die Umwelt ihrer Feldfrüchte genauer überwachen möchten.

Die Netzneutralitätsverordnung sieht sogenannte Spezialdienste vor, die anders behandelt werden als Internetzugangsdienste, und die daher auch nicht den allgemeinen Regelungen der Netzneutralität unterliegen. Die Frage, welche Dienste unter welchen Bedingungen angeboten werden können, ist jedoch entscheidend, daher können diese Ausnahmen auch nicht zur Umgehung jener Instrumente, die dem Schutz der Netzneutralität dienen, verwendet werden. Für den Einsatz von Spezialdiensten verlangt die Verordnung, dass die Ausgestaltung als Spezialdienst tatsächlich notwendig ist (dass also der Dienst nicht über das reguläre Internet angeboten werden kann) sowie dass Spezialdienste die allgemeine Qualität des Internetzugangsdienstes nicht beeinträchtigen. 

In seinem Entwurf der neuen Leitlinien hat BEREC an den Regelungen zu Spezialdiensten mehrere Änderungen vorgenommen. Einige darunter schwächten den Wortlaut der alten Leitlinien darüber ab, wie nationale Regulierungsbehörden die Frage beurteilen sollen, ob ein bestimmter Dienst zulässig ist. Insbesondere wurde ein Passus hinzugefügt, wonach nur Qualitätseinbußen am Internetzugangsdienst „der über dasselbe Netzwerk angeboten wird“ berücksichtigt würden, dass die Zahl der betroffenen Nutzer*innen erhoben werden müsse und dass gewöhnlich einige Jahre zwischen der Erstzulassung eines Dienstes und seiner neuerlichen Beurteilung vergingen. Gegen diesen Passus haben wir aus mehreren Gründen Einwände erhoben: mehrere Netzwerktechnologien, die von ein und demselben Betreiber genutzt werden, könnten Backhaul-Kapazität teilen und Spezialdienste sollten keinem dieser Netzwerke schaden. Außerdem schützt die Verordnung alle Nutzer*innen und nicht bloß deren Mehrheit. Weiters könnten geänderte Umstände schnelle Interventionen nationaler Regulierungsbehörden erfordern. In der Endversion der BEREC-Leitlinien ist dieser Passus nicht mehr enthalten. 

5G Netzwerk-„Slicing“ und neue Arten von Internetzugangsdiensten

5G ist nicht nur für Spezialdienste relevant: der Mobilfunkstandard ermöglicht Betreibern außerdem die Erschaffung neuer Internetzugangsdienst-Produkte, bei denen einziges Abonnement den Internetzugang über mehrere „Slices“ mit unterschiedlichen Service-Qualitäten bereitstellt. Bisher waren die Umsetzung und der Einsatz solcher Produkte auf Mobilgeräten nicht möglich. Wir haben immer argumentiert, dass derartige Produkte gemäß der Netzneutralitätsverordnung erlaubt sind, solange der*die Abonnent*in absolute Kontrolle darüber hat, welche Anwendung welches „Slice“ nutzt. Der ergänzte Wortlaut der neuen BEREC-Leitlinien spiegelt diese Ansicht wider: die Leitlinien halten fest, dass neuartige Internetzugangsdienst-Produkte die verschiedenen Stufen an Service-Qualität „anwendungs-agnostisch“ behandeln müssen und definieren dabei klar, dass das anwendungsunabhängig bedeutet (ähnliche Anwendungen sind also nicht zu gruppieren). 

BEREC hat diese Handlungsempfehlungen angenommen und dadurch als erste wichtige regulierende Körperschaft klargestellt, dass Netzneutralität und 5G miteinander vereinbar sind. Diese spezielle Lösung gibt Nutzer*innen die Kontrolle darüber, wie sie ihren Internetzugangsdienst verwenden möchten. 

Filter für die elterliche Kontrolle

Die Entstehungsgeschichte der Netzneutralitätsverordnung zeigt, dass die gesetzgebenden Organe keine speziellen Ausnahmen für Internetzugangsanbieter machen wollten, die die Einführung von Filtern zur Umsetzung elterlicher Kontrolle im Internet ermöglicht hätten. So hatte Großbritannien vorgeschlagen, die Bestimmungen gegen Netzsperren derart zu novellieren, dass Filter zur elterlichen Kontrolle davon ausgenommen wären – der Vorschlag wurde aber nicht angenommen. Überraschenderweise enthielt der Entwurf der BREC-Leitlinien eine neue Formulierung, die es Internetzugangsanbietern erlaubte, Filter zur elterlichen Kontrolle anzubieten: dabei durfte aber – anders als bei anderen Anbietern – keine „endpunktbasierte“ Filtersoftware (der Begriff wurde im Entwurf nicht definiert) zum Einsatz kommen, sondern nur ein „ähnlicher“ Weg, der einer Beurteilung im Einzelfall unterlag. Gemäß der Verordnung selbst sind Netzsperren aus wirtschaftlichen Überlegungen (wie beispielsweise zur Bereitstellung von Diensten für elterliche Filter) jedoch generell unzulässig und unterliegen gerade keiner Einzelfallsbeurteilung. Wir haben daher aufgezeigt, dass diese neue Formulierung eine eigentlich vollkommen klar beantwortete Frage unklar erscheinen ließ. BEREC hat unsere Bedenken aufgegriffen und in der Endversion der Leitlinien den „ähnlichen“ Weg durch „denselben“ Weg ersetzt. Außerdem wurde klargestellt, dass der von Internetzugangsanbietern bereitgestellte „Standard“ DNS-Resolver keine Dienste sperren darf und dass „endpunktbasierte“ Filterung im Netzwerk des*der Abonnenten*in stattfindet. Seither ist klarer, dass eine Einzelfallsbeurteilung von Filterprodukten allenfalls zusätzlich zu den sonstigen Regeln anzuwenden ist, nicht aber an deren Stelle. 

Deep Packet Inspection

Normalerweise müssen Internetzugangsanbieter nur bestimmte Metadaten verarbeiten, die von den Nutzer*innen zur Übermittlung ihres Datenverkehrs bereitgestellt werden (vorrangig sind das Quell- und Zieladresse). Technologie für Deep Packet Inspection (DPI) erlaubt es Betreibern hingegen, Datenströme als Gesamtheiten zu betrachten und Datenverkehr differenziert zu behandeln, beispielsweise nach Kriterien wie dem Domainnamen, unter dem ein genutzter Dienst abgerufen wird oder auch einfach nach einzelnen im Browser aufgerufenen Webseiten. Die Verordnung bestimmt jedoch, dass die unterschiedliche Behandlung von Datenverkehr auf Basis „spezifischer Inhalte“ nicht angemessen und daher – abgesehen von näher beschriebenen Ausnahmen – unzulässig ist. Die alte Version der Leitlinien hatte klargestellt, dass DPI nicht zur Abwicklung von Datenverkehr herangezogen werden darf, weil „spezifische Inhalte“ transport protocol layer payload umfasst, worin auch Informationen wie der Domainname enthalten sind. Jedoch scheint es jetzt so, als wäre der Branche etwas daran gelegen, diese Regelungen zu ändern und insbesondere die Auswertung von Domainnamen zuzulassen. 

Im Zuge seiner Konsultation zum Entwurf der Leitlinien hat BEREC seine Stakeholder gefragt, ob diese Definition geändert werden sollte und auch einen Brief an den Europäischen Datenschutzausschuss (EDSA) mit der Frage verfasst, ob derartige Datenverarbeitungen rechtmäßig sein könnten. Unsere Antwort ist klar, wie auch die des EDSA: es ist äußerst unwahrscheinlich, dass DPI auf rechtmäßige Art und Weise zum Einsatz kommen kann. In der Endversion der Leitlinien sind die betreffenden Absätze nicht geändert und verbieten daher wie auch bisher den Einsatz von DPI bei der Abwicklung von Datenverkehr. Wir hoffen, Telekom- und Datenschutzregulierungsbehörden werden bei der Durchsetzung dieser Bestimmungen gewissenhafter.

Abwicklung von Datenverkehr

Vor nationalen Regulierungsbehörden und Gerichten haben Telekommunikationsdienstbetreiber bezüglich ihrer Praktiken der Abwicklung von Datenverkehr argumentiert, dass die dazu in der Verordnung enthaltenen Regelungen (insbesondere Art. 3 Abs 3) einerseits nur dann anwendbar seien, wenn Internetzugangsanbieter einseitig handeln und dass sie andererseits durch Vereinbarungen mit Betreibern verdrängt würden. Eine derartige Auslegung würde natürlich die ganze Verordnung aushebeln: jeder Internetzugangsanbieter könnte sich ganz einfach selbst den Freibrief für jegliche Art unangemessener Abwicklung von Datenverkehr schreiben, und zwar getarnt als Vertragsbestimmungen. Sowohl die nationalen Regulierungsbehörden als auch die Gerichte haben die Argumente der Betreiber zurückgewiesen. In seinen neuen Leitlinien hat BEREC diese Gerichtsentscheide durch ergänzende Ausführungen berücksichtigt, wodurch klargestellt wird, dass Kund*innen auf ihre Rechte nicht im Wege einer Vereinbarung verzichten können. 

Zero-rating und andere anwendungsabhängige Preismodelle

Viele Mobilfunkbetreiber bieten Produkte an, bei denen der von bestimmten Anwendungen oder Diensten generierte Datenverkehr entweder gar nicht vom abonnierten Datenvolumen abgezogen wird (zero-rating) oder zu niedrigeren Sätzen verrechnet wird. Während wir der Überzeugung sind, dass derartige Angebote entsprechend dem allgemeinen Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs 3 der Netzneutralitätsverordnung verboten sind, sehen die BEREC-Leitlinien eine Beurteilung im Einzelfall vor und zählen außerdem Kriterien dafür auf. 

Zero-rating und ähnliche Angebote gibt es vor allem in zwei Formen: offene Angebote erlauben grundsätzlich allen Anbietern von Anwendungen oder Diensten eines bestimmten Typs am Programm teilzunehmen, während im Fall von geschlossenen Angeboten der Kreis der potentiell Teilnehmenden von vorneherein auf Partner des Betreibers begrenzt ist. In der Praxis sind oft beachtliche Anstrengungen erforderlich, um einem offenen Programm beizutreten. Sowohl technische Anpassungen sind notwendig als auch müssen Anbieter von Anwendungen und Diensten bürokratische Hürden überwinden. Ein neuer Passus in den novellierten BEREC-Leitlinien betrifft diese Anforderungen und bezieht sich dabei auf offene Programme. Unsere 2018 durchgeführte Erhebung hat jedoch ergeben, dass es sich bei der Mehrheit der Zero-Rating-Angebote (und ähnlicher Angebote) um geschlossene Angebote handelt, die den Markt noch mehr verzerren als offene Programme. Während der Passus in den neuen Leitlinien zwar anerkennt, dass Zero-Rating und ähnliche Angebote Anreize schaffen, einige Anwendungen eher zu nutzen als andere, trägt er wenig zur Lösung des Problems mit geschlossenen Angeboten bei. 

Neben den Beurteilungskriterien im Hauptteil der Leitlinien hat BEREC in einem neuen Anhang eine detailliertere Liste hinzugefügt. Wir haben BEREC ersucht, das Beurteilungskriterium Preis pro Nutzungsdauer zu inkludieren, weil der durch differenzierte Preisgestaltung bei Anwendungen und Diensten geschaffene Anreiz so abgebildet würde. Leider hat BEREC unseren Vorschlag nicht übernommen und es daher verfehlt, das systemische Problem von Zero-Rating in Europa zu lösen.

Transparenzverpflichtungen

Artikel 4 der Verordnung verpflichtet Internetzugangsanbieter, (potentiellen) Abonnent*innen Informationen über die Praktiken der Abwicklung von Datenverkehr und über Parameter der Service-Qualität bereitzustellen. In der Praxis stellt sich jedoch heraus, dass diese Transparenzverpflichtungen selten erfüllt und von Regulierungsbehörden in jährlichen Berichten kaum erwähnt werden. Vielversprechend enthielt der Entwurf der neuen Leitlinien eine Bestimmung, wonach Information über die Abwicklung von Datenverkehr „so spezifisch wie möglich sein sollten“. Zu unserer Enttäuschung ist diese Bestimmung in der Endversion der neuen Leitlinien wieder entfallen.  

Fazit

Mit dieser Reform der Leitlinien haben wir uns einen Schritt weiter in Richtung eines freien, offenen Internets bewegt. Während die weltweite Diskussion rund um Netzneutralität immer anspruchsvoller wird, schreitet die europäische Debatte unter der Oberfläche gleichmäßigen Schrittes voran. BEREC hat sorgfältige Arbeit geleistet, jedoch das systemische Problem des Zero-Ratings unserer Ansicht nach nicht ausreichend gelöst. Wir hoffen, dass die Schwerpunktsetzung auf Nutzer*innenkontrolle in Empfehlungen von BEREC zu neuen 5G-Zugangsprodukten die weltweiten Debatten rund um 5G-Geschäftsmodelle prägen wird. 

---

Der ursprüngliche Artikel ist auf Englisch erschienen und wurde von Victoria Kontrus übersetzt.

Da du hier bist!

… haben wir eine Bitte an dich. Für Artikel wie diesen analysieren wir Gesetzestexte, bewerten Regierungsdokumente oder lesen Allgemeine Geschäftsbedingungen (wirklich!). Wir sorgen dafür, dass möglichst viele Menschen sich mit komplizierten juristischen und technischen Inhalten befassen und auch verstehen, dass sie große Auswirkungen auf unser Leben haben. Diese Arbeit machen wir aus der festen Überzeugung, dass wir gemeinsam stärker sind als alle Lobbyisten, Machthabende und Konzerne. Dafür brauchen wir deine Unterstützung. Hilf uns, eine starke Stimme für die Zivilgesellschaft zu sein!

Jetzt Fördermitglied werden

Ähnliche Artikel: