EU-Kommission droht mit Aushöhlung der Grundwerte des freien und offenen Internets
Am 8. Juni veröffentlichten 34 zivilgesellschaftliche Organisationen aus 17 Ländern eine gemeinsame Erklärung, um ihre Besorgnis über die öffentlichen Äußerungen von Kommissarin Margrethe Vestager und Kommissar Thierry Breton auszudrücken, die auf eine Neuordnung des regulatorischen Rahmens für das freie und offene Internet abzielen.
Die Kommissare signalisierten ihre Absicht, Anbieter von Inhalten und Anwendungen (Content and Application Providers, CAP) künftig mit einer Gebühr für die Nutzung von Internetinfrastruktur zu belasten. Das widerspricht den grundlegenden Netzneutralitätsprinzipien und fundamentalen Schutzbestimmungen in der Europäischen Union. In den vergangenen zehn Jahren wurden solche Vorschläge bereits ausführlich erörtert und von Regierungen, Gesetzgebern und Regulierungsbehörden in Europa und auf der ganzen Welt immer wieder verworfen. Auch heute hat sich nichts geändert, das rechtfertigen würde, das freie und offene Internet zu opfern, um die Interessen der Telekombranche zufriedenzustellen.
Die europäischen Internetnutzer*innen wollen weiterhin in großem Ausmaß die Anwendungen, Inhalte und Dienstleistungen, die von den großen Content Providern angeboten werden, nutzen. Die Kosten für die Errichtung und den Betrieb von Netzwerkinfrastruktur sind aufgrund des Fortschritts bei Netzwerktechnologien sogar drastisch gefallen, wodurch es ISPs möglich wurde, mehr und schnellere Breitbandinfrastruktur zu bedeutend niedrigeren Kosten zu errichten. Folglich sprechen die wirtschaftlichen und technischen Umstände jetzt sogar noch stärker gegen die Einführung eines solchen Entgelts, als das bei früheren Debatten der Fall war.
Das „Sending-Party-Pays“-Modell, dessen Anwendung für das Internet die EU-Kommission jetzt prüft, ist genau dasselbe Modell, das bei internationalen Telefonanrufen zu Minutenpreisen von vier bis fünf Euro geführt hat. Die Anrufe waren deshalb so teuer, weil die Telekom-Unternehmen einen Monopolzugang zu ihren Kund*innen hatten. Dadurch war es ihnen möglich, Monopolpreise für internationale Gespräche zu verlangen, und den internationalen Telekomanbietern blieb nichts übrig, als zu zahlen oder keinen Zugang zu erhalten. Breitbandanbieter haben dasselbe Monopol auf ihre Kund*innen, und die Vorschläge der EU-Kommission würden ihnen ermöglichen, dieses Monopol bei der Gewährung eines kostenpflichtigen Zugangs für Content Provider auszunutzen.
Der Vorschlag würde die freie Meinungsäußerung, den freien Zugang zu Wissen, die unternehmerische Freiheit sowie Innovationen in der EU schädigen. Er würde der europäischen Internetwirtschaft schaden und beispiellose bürokratische Hürden schaffen, die das Wachstum der Volkswirtschaft in einer Phase der Erholung verlangsamen. Deshalb fordern 34 zivilgesellschaftliche Organisationen Kommissarin Vestager und Kommissar Breton auf, gegen die kurzsichtigen und eigennützigen Forderungen der Telekombranche aufzutreten und ein freies und offenes Internet zu gewährleisten.
Der vollständige offene Brief steht hier und unterhalb:
Sehr geehrte Frau Kommissarin Vestager,
sehr geehrter Herr Kommissar Breton,
Die 34 zivilgesellschaftlichen Organisationen aus 17 Ländern, die diesen offenen Brief unterzeichnet haben, sind zutiefst über Ihre öffentlichen Aussagen vom 2. Mai 2022 beunruhigt, die offenbar auf drastische
Änderungen des regulatorischen Rahmens [1] für das freie und offene Internet abzielen. Eine Kostenpflicht für die Nutzung von Internetinfrastruktur für Anbieter von Inhalten und Anwendungen wäre eine Aushöhlung des Schutzes der Netzneutralität in der Europäischen Union und unvereinbar mit diesen Schutzbestimmungen, vergleichbar mit dem Versuch der Regierung Trump, den gesetzlichen Schutz der Netzneutralität in den Vereinigten Staaten auszuschalten.
Große europäische Telekom-Unternehmen lobbyieren seit 2012 für das „Sending-Party-Pays“-Modell [2], das Sie jetzt thematisieren. In den vergangenen zehn Jahren wurden diese Vorschläge ausführlich erörtert und
von Regierungen, Gesetzgebern und Regulierungsbehörden in Europa und auf der ganzen Welt wieder und wieder verworfen – und das völlig zu Recht.
Es hat sich nichts geändert, das zum jetzigen Zeitpunkt ein anderes Ergebnis rechtfertigen würde – die europäischen Internetnutzer*innen wollen nach wie vor in großem Ausmaß die Anwendungen, Inhalte und
Dienstleistungen, die von den großen Content Providern angeboten werden, nutzen. Im Gegenteil, die Kosten für die Errichtung und den Betrieb von Netzwerkinfrastruktur sind aufgrund des Fortschritts bei Netzwerktechnologien drastisch gefallen, wodurch es ISPs möglich wurde, mehr und schnellere Breitbandinfrastruktur zu bedeutend niedrigeren Kosten zu errichten. [3] Folglich sprechen die wirtschaftlichen und technischen Umstände jetzt sogar noch stärker gegen die Einführung eines solchen Entgelts, als das bei früheren Debatten der Fall war.
Umso schockierender ist es, dass die Kommission plötzlich ihre Unterstützung für derartige Vorschläge äußert – ohne öffentlichen Prozess oder Konsultationen mit Vertretern des öffentlichen Interesses, Regulierungsbehörden, internetbasierten Unternehmen oder Kleinunternehmen.
2012 behandelte die ITU das von Ihnen angedachte Sending-Party-Pays-Modell eingehend. Die OECD verwarf den Vorschlag ganz eindeutig. [4] Das BEREC hat die europäischen Märkte für Zusammenschaltung [5] bei zahlreichen Anlässen [6] ausführlich analysiert und 2012 den Sending-Party-Pays-Vorschlag [7] der ETNO als unlauter, überflüssig und nicht umsetzbar abgelehnt. Letzten Endes verhinderten mehrere europäische Regierungen und ihre Partner, dass die ITU den Vorschlag [8]verabschiedete. Selbst die EU-Kommission verwarf die Idee [9] aus ähnlichen Gründen. Es sei deutlich gesagt, dass das Sending-Party-Pays-Modell, das Sie jetzt für das Internet in Betracht ziehen, dasselbe Modell ist, das bei internationalen Telefonanrufen zu Minutenpreisen von vier bis fünf Euro geführt hat. Die Anrufe waren deshalb so teuer, weil die Telekom-Unternehmen einen Monopolzugang zu ihren Kund*innen hatten. Dadurch war es ihnen möglich, Monopolpreise für internationale Gespräche zu verlangen, und den internationalen Telekomanbietern blieb nichts übrig, als zu zahlen oder keinen Zugang zu erhalten. Breitbandanbieter haben dasselbe Monopol auf ihre Kund*innen, und die von Ihnen in Betracht gezogenen Vorschläge würden ihnen ermöglichen, dieses Monopol bei der Gewährung eines kostenpflichtigen Zugangs für Content Provider auszunutzen. Aus diesem Grund verbieten frühere und geltende Bestimmungen zum Schutz der Netzneutralität in den USA [10] , Indien [11] und der EU [12] genau diese Art von Entgelt, das Sie jetzt vorschlagen.
Zwar wäre es verlockend zu glauben, dass diese Monopolgebühren benutzt würden, um die Netzwerkinfrastruktur zu verbessern, doch die Zahlen sprechen für das Gegenteil. Eine Studie der Länder mit den höchsten Zugangsentgelten für Telefonie stellte eine negative Korrelation zwischen hohen Entgelten[13] und der Errichtung von fortschrittlicher Telekom-Infrastruktur fest. Anders gesagt schadeten hohe Zugangsentgelte dem Infrastrukturausbau, anstatt ihn zu fördern. In Ihren Aussagen sprechen Sie von „Akteuren, die viel Datenverkehr generieren“ und fordern einen fairen
Beitrag dieser Marktteilnehmer an die Telekombranche [14]. Doch diese Forderung dürfte auf einem grundlegenden Missverständnis der Funktionsweise des Internets beruhen. Die europäischen Internetnutzer*innen erzeugen den Datenverkehr, der über die europäischen Zugangsnetze läuft, und sie bezahlen ihren ISP für den Transport der Daten von Content Providern auf ihre Geräte. Meta, Alphabet,
Apple, Amazon, Microsoft und Netflix senden Datenpakete an die europäischen Internetteilnehmer*innen, weil die Europäer*innen ihre Dienste nutzen und die von diesen Unternehmen angebotenen Webseiten,
Videos und Apps aufrufen. Die EU-Netzneutralitätsverordnung erlaubt den Europäer*innen, die Bandbreite, die sie von ihrem ISP kaufen, so zu verwenden, wie sie wollen – sei es für Netflix, YouTube, Facebook oder
für kleine, lokale Seiten oder Dienste. Den europäischen Telekom-Unternehmen wird also der Transport dieser Daten über ihre Zugangsnetze bereits von ihren eigenen Internetkund*innen vergütet; sie wollen schlicht zweimal für dieselbe Leistung bezahlt werden. Die Content Provider wiederum zahlen bereits dafür, dass ihre Inhalte, Anwendungen und Dienste durch das Internet befördert und für die letzte Meile an ISPs nahe den anfragenden Endnutzer*innen ausgeliefert werden. Große Content Provider tätigen hohe Investitionen in Content Delivery Networks und die dafür
notwendige Infrastruktur. Sie kommen bereits für einen beträchtlichen Teil der Gesamtkosten der Internetinfrastruktur auf. Paradoxerweise boten Telekom-Unternehmen in allen bis auf zwei EWR-Staaten bis zum kürzlich erfolgten Verbot von Zero-Rating durch den Europäischen Gerichtshof [15] Anreize für den Datenverkehr der Big-Tech- Unternehmen, indem sie diesen Datenverkehr bei der Bemessung des Datenverbrauchs ihrer Kund*innen
nicht berücksichtigten, wodurch sie im Endeffekt ihre Kund*innen dazu animierten, mehr – und sogar unbegrenzt – Daten von Big-Tech-Unternehmen zu konsumieren [16] . Jetzt machen sie eine Kehrtwende und
sagen, dass diese Daten ihre Netzwerke überschwemmen, verstopfen und kaputtmachen würden. Beides geht nicht. Letztlich ist es der Erfolg von Anbietern populärer Inhalte und Anwendungen, der die europäischen
Nutzer*innen dazu bringt, immer mehr Daten mit immer höheren Geschwindigkeiten zu kaufen, wie die ehemalige Kommissarin Neelie Kroes einräumte [17]. Der rasante Ausbau von Netzen mit sehr hoher Kapazität
(z. B. die Ablöse von bestehenden kupferbasierten Verbindungen durch Glasfasernetze) in mehreren Mitgliedsstaaten zeigt, dass die Teilnehmer*innen bereit sind, für die Infrastruktur, die ihnen Zugang zu
hochwertigen (und „datenhungrigen“) Inhalten wie 4K-Video-Streaming bietet, zu zahlen. [18] Wir sollten uns nach Kräften bemühen, diese positive Rückkoppelung, die das Wachstum des Internets in den vergangenen
Jahrzehnten angetrieben hat, zu unterstützen, nicht zu durchbrechen.
Sollte die EU wirklich Terminierungsgebühren vorschreiben, würden sich die Schäden quer durch das weltweite Internet verbreiten und könnten zu einer drohenden Zersplitterung führen. Europäische Telekom- Unternehmen würden Gebühren für den Zugang zu ihren Netzwerken verlangen, und andere Weltregionen würden wahrscheinlich dem EU-Modell folgen. Grundlagen wie das End-to-end-Prinzip und weltweit einheitliche Wettbewerbsbedingungen gingen verloren, und aus dem Internet würde ein „Splinternet“, in dem die Erbringung von Leistungen über Landesgrenzen hinweg bürokratische Prozesse zur Verhandlung von Zugangskonditionen in jedem einzelnen Netzwerk erfordern würde. [19] Das Wachstum von europäischen Startups würde durch die Notwendigkeit behindert, mit Hunderten von ISPs in EU-Mitgliedsstaaten, deren Kund*innen das Startup mit seinen Diensten erreichen möchte, Vereinbarungen auszuhandeln. Wir
erwarten, dass der Vorschlag zumindest anfänglich nur sehr große Content Provider unter den GAFAM- Unternehmen betreffen würde. Aber jede Ausnahme für KMUs, unterhalb einer gewissen Schwelle kein
Zugangsentgelt zahlen zu müssen, würde zu einer gläsernen Decke führen, die Wachstum, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Internetwirtschaft behindert. Die Idee von Zugangsentgelten wird seit Jahrzehnten diskutiert und wurde jedes Mal, und völlig zu Recht, als
gefährlich und undurchführbar aufgegeben [20] . Der Vorschlag würde der freien Meinungsäußerung, dem freien Zugang zu Wissen, der unternehmerischen Freiheit und der Innovation in der EU schaden. Er würde
die europäische Internetwirtschaft schädigen und beispiellose bürokratische Hürden schaffen, die das Wachstum der Volkswirtschaft in einer Phase der Erholung verlangsamen.
Deshalb fordern wir Sie auf, das freie und offene Internet nicht den kurzsichtigen und eigennützigen Forderungen der Telekombranche zu opfern.
Mit freundlichen Grüßen[1] https://www.reuters.com/business/media-telecom/eus-vestager-assessing-if-tech-giants-should-share-telecoms-network-costs-2022-05-02/
[2] https://arstechnica.com/information-technology/2012/12/dear-itu-please-dont-bill-internet-use-like-phone-calls/
[3] Beispielsweise sagte John Stephens, CFO von AT&T, 2016 gegenüber Investoren, dass das Unternehmen aufgrund seiner zunehmenden Netzwerkvirtualisierung „die 2,5-fache Kapazität zu 75 Prozent der Investitionskosten im Vergleich zu vor ein paar Jahren“ bauen würde.
https://www.fiercewireless.com/wireless/t-mobile-at-t-and-verizon-maintain-capex-spending-despite-incentive-auction
zu Mobilfunknetzen, siehe
ReWheel Research, „Unlimited mobile data and near zero marginal cost – a paradigm shift in telco business
models“, 25. September 2017, S. 4.[4] https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/5k918gpt130q-en.pdf?expires=1651916588&id=id&accname=guest&checksum=1FB72501B36D36DD4E6856AEEDC6B188
S. 13-14, 33.[5] BoR (12) 130
https://berec.europa.eu/eng/document_register/subject_matter/berec/reports/1130-an-assessment-of-ipinterconnection-in-the-context-of-net-neutrality[6] BoR (17) 184
https://berec.europa.eu/eng/document_register/subject_matter/berec/reports/7299-berec-report-on-ipinterconnection-practices-in-the-context-of-net-neutrality#:~:text=In%202012%20BEREC%20published%20the,patterns%20and%20in%20business%20models[7] https://berec.europa.eu/eng/document_register/subject_matter/berec/others/1076-berecs-comments-on-the-etno-proposal-for-ituwcit-or-similar-initiatives-along-these-lines
[8] https://cepa.org/whats-old-is-new-again-is-retrograde-telecom-policy-returning-to-europe/
[9] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_14_647
[10] FCC 2010 Open Internet Order (paragraphs 24-34, 67); FCC 2015 Open Internet Order (paragraphs 80-84, 113, 120, 193, 195, 206); California Net Neutrality Law SB 822, § 3101(a)(3),(9) & § 3101(b).
[11] https://dot.gov.in/sites/default/files/DoT%20Letter%20on%20Net%20Neutrality%20Regulatory%20Framework%20dated%2031%2007%202018_0.pdf?download=1
(S. 5)[12] BEREC Open Internet Guidelines BoR (16) 127 (paragraphs 5-6)
[13] https://www.mercatus.org/system/files/Telecom_Dourado_v1-0.pdf
https://arstechnica.com/tech-policy/2012/12/sender-pays-rule-doesnt-necessarily-increase-telecom-investment/[14] https://www.reuters.com/business/media-telecom/eus-vestager-assessing-if-tech-giants-should-share-telecoms-network-costs-2022-05-02/
[15] C-854/19, C-5/20 und C-34/20
[16] https://en.epicenter.works/document/1522
(S. 20-26, basierend auf Daten aus 2018)[17] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_14_647
[18] In Dänemark übersteigt die Zahl der schnellen Internetzugänge über Glasfasernetze jene über Kabel-TV-Netze
https://greenpowerdenmark.dk/nyheder/fibernet-vaelter-kabel-tv-bredbaandstronen[19] Ein Resultat, das die ETNO einräumt:
https://etno.eu/downloads/reports/europes%20internet%20ecosystem.%20socio-economic%20benefits%20of%20a%20fairer%20balance%20between%20tech%20giants%20and%20telecom%20operators%20by%20axon%20for%20etno.pdf
S.21[20] https://www.incompas.org/Files/filings/2022/04-25-22%20FINAL%20ITI%20INCOMPAS%20White%20Paper%20on%20Korea%20network%20fee%20issue.pdf
https://www.realclearmarkets.com/articles/2022/01/11/a_harmful_step_for_the_internet_in_korea_811396.html
https://www.internetsociety.org/resources/doc/2022/internet-impact-brief-south-koreas-interconnection-rules/
https://www.medianama.com/2020/08/223-net-neutrality-south-korea/
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