Netzneutralität vs. 5G: Wie der kommende Mobilfunkstandard das offene Internet beerdigen könnte
Seit 2016 ist die Netzneutralität in der Europäischen Union gesetzlich verankert. Eine halbe Milliarde Menschen profitiert vom Schutz vor Diskriminierung durch Internetanbieter. Die Netzneutralität ist ein Grundprinzip des Internets und eines der wesentlichsten netzpolitischen Themen. Sie gewährleistet den Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung, des Versammlungsrechts, der unternehmerischen Freiheit und der Innovationsfreiheit, im Internet Neuerungen zu entwickeln. Diese Schutzmaßnahmen sind nicht zuletzt auf die unermüdliche Arbeit der Zivilgesellschaft zurückzuführen. Eine Koalition aus 23 NGOs hat über drei Jahre lang an einem Strang gezogen, um Politiker und Regulierungsbehörden von der Wichtigkeit der Netzneutralität zu überzeugen. Diese Errungenschaft wird jetzt in Frage gestellt, da die EU für 2019 eine Überarbeitung der Netzneutralitätsregeln plant.
Was wissen wir über die bevorstehende Reform?
Die Netzneutralität ist in der EU durch ein zweischichtiges System geschützt, auf einer gesetzlichen und auf einer regulatorischen Ebene. Die gesetzliche Grundlage für den Schutz der Netzneutralität ist Teil einer EU-Verordnung, die über nationalen Gesetzen steht und direkt in allen 28 EU-Ländern als auch drei weiteren Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums (Norwegen, Island und Liechtenstein) gilt. Diese Verordnung gibt den unabhängigen nationalen Regulierungsbehörden die Zuständigkeit und den Auftrag, in ihren jeweiligen Ländern die Netzneutralität durchzusetzen. Um aber sicherzustellen, dass diese 31 unabhängigen Regulierungsbehörden die Verordnung gleichermaßen umsetzen, müssen diese den Leitlinien der Netzneutralität der Regulierungsbehörden-Dachorganisation BEREC "weitestgehend Rechnung" tragen. Diese Leitlinien sind ein wichtiges Dokument, das ein detailliertes Regelwerk darüber bildet, was Netzneutralität in Europa tatsächlich bedeutet.
Unser offener Brief an die Europäische Kommission, der den Interessenskonflikt von Bird & Bird erläutert
Evaluierung mit seltsamem Beigeschmack
Die Verordnung schreibt vor, dass die Europäische Kommission bis April 2019 einen Evaluierungsbericht vorlegen muss. Zu diesem Zweck hat die Kommission die externe Anwaltskanzlei Bird & Bird beauftragt, die vor allem bekannt dafür ist, Telekomunternehmen dabei zu helfen, sich gegen die Regeln der Netzneutralität zu wehren. Das hat zu der eigenartigen Situation geführt, dass die Zivilgesellschaft und Regulierungsbehörden die Stärken und Schwächen der Verordnung jenem Unternehmen berichten müssen, dem sie in einem auf derselben Verordnung beruhenden Fall vor Gericht gegenüberstehen. Mehrere NGOs, darunter epicenter.works, haben bereits einen offenen Brief an die Europäische Kommission geschickt, in dem genau dieser Interessenskonflikt erläutert wird. Die Kommission erkennt die Bedenken allerdings nicht an.
BEREC hat wiederholt angekündigt, die Leitlinien zu evaluieren. Seit der Veröffentlichung ihres Arbeitsprogramms für 2019 wissen wir auch, dass diese Evaluierung nächstes Jahr startet und in einem neuen Entwurf der Leitlinien resultieren wird. Im September wird es dann einen öffentlichen Begutachtungsprozess dazu geben. Sollte sich die EU-Kommission daraufhin entschließen, die Verordnung zu überarbeiten – was ohne den Evaluierungsbericht zu kennen schwer vorherzusehen ist –, würde ein neuer Vorschlag wohl mindestens bis 2020 auf sich warten lassen. Zuvor muss die EU die im Mai 2019 anstehenden Wahlen zum EU-Parlament, eine neu besetzte Kommission und somit eine Neuordnung der Macht in der Europäischen Union verdauen.
5G-Standard als Machthebel der Industrie
Was also ist von dieser Reform zu erwarten? Die Telekommunikationsindustrie hat bereits ganz deutlich gemacht, worüber sie dabei sprechen will: 5G. Dieser neue Mobilfunkstandard ist noch nicht einmal vollständig spezifiziert, wird aber bereits von der Branche als häufigstes Argument unterbreitet und vor allem dazu benutzt, auf der ganzen Welt bereits etablierte Netzneutralitätsregeln infrage zu stellen. Nachdem die Trump-Regierung die Netzneutralitätsregeln im Dezember 2017 abgeschafft hat, ist Europa nun die weltweit erste Region, die versucht, 5G mit der Netzneutralität in Einklang zu bringen.
Diese Debatte hat eine technologische und eine politische Seite. Technologisch gesehen gibt 5G Telekombetreibern die Mittel in die Hand, den Informationsfluss in ihren Netzen umfangreicher zu kontrollieren und zu steuern als je zuvor. Diese als "Network Slicing" bezeichnete Technik ermöglicht den Betrieb beliebig vieler virtueller Netze auf einer physischen Infrastruktur und damit differenzierte Quality-of-Service-Regeln auf unterster technischer Ebene des Funknetzes.
Mögliche Einsatzszenarien reichen von einer Bevorzugung von Premium-Kunden im Mobilfunk zu Lasten aller anderer Netzteilnehmer, die sich mit einem schlechter gestellten "Slice" zufrieden geben müssten, bis hin zu einer kompletten Segmentierung des Internets, bei der jede Anwendung im Netzwerk einzeln kontrollierbar wäre. Diese sogenannten Spezialdienste, die in der Debatte rund um die europäischen Netzneutralitätsregeln zu einem der meist umkämpften Themenfelder zählten und deren Einsatz letztlich eng eingezäunt wurde, könnten also im schlimmsten Fall das offene Internet ablösen: Überholspuren für die Reichen, lahme Verbindungen für den Rest.
Ob der Betrieb des neuen 5G-Standards sich an den bereits bestehenden Telekommunikationsgesetzen orientieren muss oder ob sich die Gesetze dem neuen Industriestandard unterwerfen müssen, sollte eigentlich einfach zu beantworten sein. Wenn man aber davon ausgeht, was bisher aus der Telekomindustrie zu hören ist, wird sich eine heftige politische Debatte an dieser Frage entzünden. Erst vor kurzem haben Vertreter von Vodafone und AT&T beim Internet Governance Forum in Paris zum wiederholten Male für eine Aufweichung der bestehenden Netzneutralitätsregeln argumentiert, um eine Einführung von 5G für sie möglichst rentabel zu gestalten.
Überholspuren ohne Zweck
5G erlaubt Providern also technisch weitaus mehr Kontrolle bei der Bevorzugung einzelner Anwendungen oder einzelner Internetnutzer. Der Standard bringt aber auch einige neue interessante Funktionen wie die Spezifizierung eines Network Slices, der besonders energieeffizient ist und zum Beispiel von solarbetriebenen IoT-Geräten benutzt werden kann. BEREC stellt sich diesen Fragen im kommenden Reformprozess. Die Regulierungsbehörden werden also darüber entscheiden, ob die Schutzmaßnahmen gegen den Missbrauch der Ausnahmeregelungen zur Netzneutralität, worunter die Spezialdienste fallen, aufgeweicht werden. Der derzeitige BEREC-Vorsitzende Johannes Gungl von der österreichischen Regulierungsbehörde RTR hat in einem Branchenforum sehr direkt auf die Forderungen der Industrie nach Überholspuren geantwortet:
Unseren Untersuchungen zufolge liegen dafür keine Beweise auf dem Tisch. Wir haben bisher keinen Anwendungsfall gesehen, der nicht unter den aktuellen Regeln möglich wäre. Deshalb denken wir, dass das unser Netzneutralitäts-Regelwerk flexibel genug für 5G ist.
Vorstand der österreichischen Regulierungsbehörde RTR und aktueller Vorsitzender von BEREC
Allerdings wird Gungl demnächst als Chef der RTR abgelöst, nämlich durch Klaus Steinmaurer, seines Zeichens ehemaliger Vizepräsident der Abteilung für Internationale Regulierungsangelegenheiten der Deutschen Telekom.
Falls Europa dem Druck der Telekombranche nachgibt, seine Netzneutralitätsregeln aufweicht und ein Zwei-Klassen-Internet zulässt, das aufgrund des segmentierten 5G-Netzwerks leicht umsetzbar ist, würde einer der letzten Dominosteine fallen. Sollte nach den USA nun auch Europa sich den Wünschen der Industrie beugen und die Netzneutralität beerdigen, wäre das wohl auch das langfristige Ende des freien Internets im Westen. Die Telekomindustrie wird mit ihrem ganzen Gewicht in dieser Reform auftreten. Wer sich auf der Gegenseite, neben den üblichen Netzaktivistinnen und -aktivisten, an der unvermeidlichen Auseinandersetzung beteiligen wird, bleibt noch unklar.
Die ungelöste Frage des Zero Rating
Auch in der Frage des "Zero Ratings", also der Diskriminierung im Internet, indem manche Anwendungen billiger oder teurer gemacht werden, liegt die Entscheidung in Europa bei der nationalen Regulierungsbehörde. Während Zero-Rating-Angebote in jedem europäischen Land existieren (außer einem), hat noch keine einzige Regulierungsbehörde dieser Praxis Einhalt geboten. In manchen Ländern konnten wir sogar einen 70-fachen Preisunterschied zwischen Datenvolumen für die Nutzung von Facebook und einem Datenvolumen für die Nutzung des restlichen Internets feststellen. Speziell für einkommensschwache und junge Internetnutzer sind diese Angebote verführerisch, treiben sie aber immer weiter zu etablierten Internetdiensten, die sich den zusätzlichen Aufwand leisten können.
Die Evaluierung der Netzneutralitätsregeln wird sich dieses Themas annehmen müssen. Die BEREC-Leitlinien sehen jedenfalls eindeutig vor, dass es Fälle gibt, bei denen die Regulierungsbehörden gegen Zero-Rating-Angebote vorgehen müssen. Obwohl ein rigoroses Verbot von Zero Rating das beste Ergebnis wäre, brauchen Regulierungsbehörden zumindestens klarere Regeln, wie sie mit den besonders drastischen Fällen umgehen müssen. epicenter.works wird Anfang 2019 einen Bericht zum Status der Netzneutralität in Europa publizieren, in dem auch eine komplette Auswertung aller Zero-Rating-Angebote auf dem europäischen Markt zu finden sein wird.
Wie die Reform ausgeht liegt an uns
Letztendlich hängt die Zukunft der Netzneutralität von jenen Menschen ab, die sie unterstützen. Der beste Weg, um unsere Arbeit in der Verteidigung des freien Internets zu unterstützen, ist eine Spende oder eine Fördermitgliedschaft. Wir liefern umfangreiche Studien und Daten zum Phänomen der Netzneutralität. Wir setzen uns in mehreren Parlamenten für ein freies Internet ein und versuchen unermüdlich Aufklärungsarbeit zu leisten. Wenn Regulierungsbehörden nicht bereit oder nicht in der Lage sind, ihre Arbeit zu erledigen, unterstützen wir sie mit Einreichungen und strategischen Klagen. Wir kämpfen seit acht Jahren aus tiefster Überzeugung für ein freies Internet und eine offene Gesellschaft. Bitte hilf uns, diese Arbeit fortzuführen!
>> Lies unser Interview mit Bird & Bird über ihren Evaluierungsbericht
>> Lies die Antwort der Zivilgesellschaft auf die Begutachtung des BEREC-Arbeitsprogramms
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