Netzneutralität: Zivilgesellschaft kontert beeinflusste EU-Kommission
Die Debatte um zusätzliche Netzgebühren nimmt mit einer öffentlichen Konsultation Fahrt auf. Wir sprechen mit den Verantwortlichen und bieten Hilfestellung beim Ausfüllen des Fragebogens zu dieser gefährlichen Forderung der Telekomlobby.
Öffentlichkeit endlich offiziell involviert
Aktuell wird endlich die Öffentlichkeit auch formal in die Debatte um zusätzliche Netzgebühren einbezogen. Die EU-Kommission hat dazu nach mehreren Ankündigungen und Verschiebungen am 23. Februar eine öffentliche Konsultation gestartet. Vor dem Hintergrund, dass ein möglicher Gesetzesvorschlag ohne vorhergehende Konsultation nur bedingt seriös ist, passiert das reichlich spät.
Die Problematik der Gebühren auf zwei Seiten ist schon etwas länger im EU-Gespräch. Vizepräsidentin der EU-Kommission Vestager und Kommissar Breton hatten schon letzten Sommer öffentlich durchscheinen lassen, den regulatorischen Rahmen für das offene und freie Internet umkrempeln zu wollen.
Kommission ergreift Partei für Telekomlobby
Eine echte Diskussion, woher das Geld für einen weiteren Netzausbau kommen soll, hat jedoch nie statt gefunden. Die Kommission hat sich von Anfang an auf die Seite der großen Telekomkonzerne geschlagen – zu Lasten so gut wie aller anderen Teile der Gesellschaft. Explizit vergessen hat man die Bedürfnisse von z.B. kleineren und mittleren Unternehmen (KMUs), dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, öffentlichen Einrichtungen, dem Bildungsbereich und auch allen privaten Internetnutzer:innen.
Schlimm genug, dass die Linie der Kommission bei diesem wichtigen Thema seit Beginn der Debatte jede Neutralität vermissen lässt – selbst die nun bis zum 19. Mai laufende öffentliche Konsultation ist alles andere als objektiv. Eigentlich sollte die EU-Kommission in diesem Prozess die Meinung der Öffentlichkeit einholen, um sachlich und objektiv Entscheidungen über die Zukunft der Struktur des Internets treffen zu können. Stattdessen veröffentlicht sie zwar einen Fragebogen, der die Bedürfnisse klären soll und den angeblich alle EU-Bürger:innen nutzen können, um ihre Meinung zu dem Thema einzureichen. Es ist aber quasi unmöglich, die Fragen zu verstehen oder zu beantworten, wenn man nicht mindestens in der Chefetage eines Großkonzerns sitzt. Außerdem sind es die völlig falschen Fragen, sieht man von den Bedürfnissen der C-Suite ab.
Konter aus der Zivilgesellschaft
Wir helfen daher betroffenen Institutionen und interessierten Privatpersonen beim Ausfüllen des Fragebogens. Außerdem haben wir auch auf der 20-jährigen Jubiläumsfeier von EDRi auf die breite Kritik zur voreingenommenen Konsultation aufmerksam gemacht – in einer direkten Antwort auf die Rede der Vizepräsidentin der EU-Kommission Margrethe Vestager. Die europäischen Telekomregulierungsbehörden (BEREC) haben in der Vergangenheit ebenfalls schon vor signifikanten Schäden für das Internet-Ökosystem gewarnt. Um die Schwere der Konsequenzen noch einmal zu verdeutlichen, haben wir am 21. März mit Konstantinos Masselos, dem Vorsitzenden von BEREC, im Europaparlament vor Abgeordneten aller Parteien über die Gefahren der geforderten Netzgebühren gesprochen. In derselben Woche haben wir die Konsequenzen auch bei einem Workshop im deutschen Bundesministerium für Digitales und Verkehr als die einzigen Vertreter der Zivilgesellschaft thematisiert, um unserer Forderung weiter Nachdruck zu verleihen.
Wenn ihr nur ein paar Minuten übrig habt, könnt ihr den Fragebogen der Kommission auch einfach so ausfüllen, indem ihr Frage 54 und 60 mit „nein“ beantwortet. Das könnt ihr als Privatperson, Verein, Unternehmen, Uni-Institut oder sonstiger Akteur machen.
Netzgebühren – zu wessen Vorteil?
Im Gegensatz zu den voreingenommenen Formulierungen des Fragebogens wäre eine sinnvolle Frage – wenn man inklusiv an alle Bürger:innen denken würde – z.B.: „Wie viel Prozent Ihres Monatseinkommens geben Sie für Telekommunikationsdienstleistungen aus?“ oder: „Hält Ihr Internetanbieter die versprochenen Datengeschwindigkeiten auch ein?“. Aber das wäre wohl zu sehr im Sinne der Kund:innen gewesen. Denn der schnelle Netzausbau ist auch gar nicht für alle Beteiligten gleich wichtig. Wer nur Zeitung liest, Musik hört und E-Mails schreibt, hat ganz andere Ansprüche an den Netzausbau, als beispielsweise Autohersteller, die ein zigfaches an Datenmengen täglich durch das mobile Netz blasen. Ob die gesamtgesellschaftliche Umverteilung von Kosten zu Gunsten der milliardenschweren Telekomindustrie überhaupt notwendig ist, wird mit keinem Wort im Fragebogen erwähnt.
Bekannte Gefahren ignoriert
Die Gefahren die durch so eine Gebühr für alle im Internet entstehen sind inzwischen weithin bekannt. Trotzdem stellt man sich auf die Seiten der Forderung der Telekomindustrie, ohne sich zu fragen, warum der Netzausbau nicht schon längst angeschoben wurde. Schließlich ist die Telekomindustrie eine blühende Branche, die auch als Gewinnerin aus der Coronakrise hervorgegangen ist. Das grundsätzliche Problem des Netzausbaus wird die von der Telekomindustrie geforderte doppelte Bezahlung an beiden Enden der Leitung jedenfalls nicht lösen.
Gebühren auf Beiden Seiten machen es kleineren Anbietern schwer oder unmöglich, Teil des Marktes zu bleiben. So würde man die Vorherrschaft großer Konzerne und Telekomanbieter noch weiter einzementieren und die Vielfalt der Inhalte im Internet erheblich beeinträchtigen. Es wäre ein weiterer Schritt, die Netzneutralität zu gefährden, denn nur wenn alle Daten gleich sind, wird die Vielfalt des bunten und für alle offenen Internets auch gewahrt.
Weitere Argumente rund um das Thema Netzgebühren haben wir in unserem Frage-und-Antwort Papier schon letztes Jahr zusammengefasst. Seit diese Debatte letztes Jahr begann, haben wir uns bereits mit mehreren offenen Briefen zu Wort gemeldet.
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