Seit über einem Jahr sehen wir uns einer hartnäckigen Kampagne von Bürgermeister Ludwig und seiner Stadträtin Ulli Sima zur Legalisierung von Innenstadtüberwachung in Österreich ausgesetzt. Trotz massiver Kritik von Daten- und Umweltschützer:innen und großem Widerstand auf Bundesebene weigert sich die Wiener Regierung, in eine sachliche Debatte einzutreten. Deshalb veröffentlichen wir nun hier unsere Replik auf die kürzlich erhobenen Forderungen, um die Debatte aus der Echokammer zu holen.

Alternativen: Natürlich braucht Verkehrsberuhigung keine Innenstadtüberwachung

Wie wir gemeinsam mit der Tageszeitung Standard im September 2022 aufdeckten, gab es ein fix fertiges Konzept zur Verkehrsberuhigung unter der grünen Vizebürgermeisterin Hebein. Laut Studien der Universität für Bodenkultur erreicht man damit eine Verkehrsberuhigung von 20% bis 90%. Dem gegenüber prognostizieren interne Dokumente der Stadt Wien lediglich eine 14%-Reduktion des Verkehrsaufkommens. Nach der starken Kritik an der Videoüberwachung wurde die vorhergesagte Reduktion der Einfahrten bei Veröffentlichung der Studie im November 2022 noch auf 1/3 nach oben korrigiert. Das Konzept von Hebein basiert auf den simplen Weisheiten der Städteplanung: Verkehrsberuhigung erreicht man mit mehr Bäumen und weniger Parkplätzen, weniger Durchfahrtsmöglichkeiten durch den 1. Bezirk und klaren Regeln, die mit Planquadraten kontrolliert werden können.

Bürgermeister Ludwig hat das Konzept von Vizebürgermeisterin Hebein vor der Wien-Wahl 2020 persönlich verhindert. Er nutze dabei seine Weisungskompetenz und stütze sich auf ein hausinternes Rechtsgutachten, in dem kurioserweise der Datenschutz *gegen* das Konzept von Hebein ins Feld geführt wird. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, wieso der Bürgermeister große Bedenken hat, wenn in der Windschutzscheibe eines Autos ein Lieferschein oder eine Hotelbuchung hinterlegt werden muss, er aber mit der zentralisierten Videoüberwachung von dicht besiedeltem Gebiet keine Probleme sieht. Vor allem, nachdem Univ.-Prof. Lachmayer das Modell von Hebein juristisch geprüft und für gut befunden hatte. Wir führen das außerordentliche Engagement von Stadträtin Sima und ihr aggressives Vorgehen gegen Klimaministerin Gewessler auf diesen Konflikt von Bürgermeister Ludwig mit dem ehemaligen grünen Koalitionspartner zurück. Schließlich ist aufgrund dieses Konflikts auch seit Jahren nichts in Sachen Verkehrsberuhigung in Wien weitergegangen.

Innenstadtüberwachung ist die teuerste und ineffizienteste Form der Verkehrsberuhigung

Im ständigen Austausch mit der Stadt Wien ist die Firma Kapsch. Bei technischen Fragen zur Innenstadtüberwachung wird auch auf diese Firma verwiesen, obwohl öffentliche Aufträge in dieser Größenordnung eigentlich ausgeschrieben werden müssen. Die Steuerzahler:innen wird die Innenstadtüberwachung allein im 1. Bezirk 20 Millionen Euro zur Einführung und 2,4 Millionen Euro in den Folgejahren kosten. Weitere Wiener Bezirke, wie der 9., sowie andere Städte wie Wels, Graz und Wiener Neustadt haben angeblich ebenfalls schon Interesse an dem System angemeldet. Die Kosten des Konzepts von Vizebürgermeisterin Hebein werden hingegen mit 200.000 Euro einmalig beziffert. Die Innenstadtüberwachung ist also um den Faktor x100 teurer.

Das Gutachten von Univ.-Prof. Forgó zur Innenstadtüberwachung wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet

Wir haben uns bereits ausgiebig zum Gutachten von Prof. Forgó geäußert und unsere Bedenken an seiner Analyse dargelegt. Am deutlichsten ist jedoch, dass im Gutachten keine abschließende Güterabwägung zu finden ist. Diese Lücke in der Analyse ist umso irritierender, weil Prof. Forgó selbst in seinem Gutachten anmerkt, dass eine Bestimmung des damaligen Überwachungspakets, die der Polizei Echtzeitzugriff auf die Kameras der Stadt Wien erlaubt, seiner Meinung nach überschießend und wahrscheinlich verfassungswidrig wäre. Nichtsdestotrotz wäre die Bestimmung anwendbar und die Polizei hätte vom ersten Tag an Echtzeitzugriff auf diese Kameras. Ebenso wenig wird auf Alternativen zur Innenstadtüberwachung eingegangen und es werden keine konkreten Schutzmaßnahmen von Fußgänger:innen, Demonstrationen, etc. festgelegt. Stattdessen wird eine ausgeweitete Anwendung dieser Überwachungsmaßnahme in Aussicht gestellt, um Verwaltungsdelikte wie das Nichteinhalten der Gurtpflicht durchzusetzen.

Videoüberwachung auf der Autobahn ist etwas Anderes als im dicht besiedelten Gebiet

Von der Stadt Wien hören wir auch, dass bestehende Kamerasysteme auf der Autobahn und die dazugehörige Judikatur der Beleg dafür sein sollen, dass man auch Innenstädte überwachen darf. Jedoch gibt es auf Autobahnen keine Passant:innen, Radfahrer:innen oder regelmäßige Demonstrationen. Gerade diese Personengruppen und deren Grundrechte kann man aber auch nicht zur Gänze mit technischen Maßnahmen vor dem Grundrechtseingriff der Videoüberwachung schützen. Denn für das Ausstellen von Verwaltungsstrafen ist ein Bild des:der Lenker:in notwendig und die Polizei kann sich ja den Echtzeitzugriff auf die unverpixelten Bilder besorgen. Vor allem im 1. Bezirk gibt es eine hohe Dichte an Regierungsgebäuden und deshalb wären durch die Innenstadtüberwachung gleich mehrere Grundrechte eingeschränkt, wie die Privatsphäre und Versammlungsfreiheit.

Italien als abschreckendes Beispiel für die Probleme der Innenstadtüberwachung

Aus Italien gibt es mehrere Fälle von Stalking und Missbrauch der dortigen Innenstadtüberwachung. Der Schaden für die Stadt Rom beläuft sich bereits auf rund 16 Millionen Euro. Rund um den Zugriff der italienischen Sicherheitsbehörden auf das System läuft ein mehrjähriger Rechtsstreit. All dies wurde bereits 2022 in einem offenen Brief an Stadträtin Sima und Klimaministerin Gewessler von Umwelt- und Datenschützer:innen aufgezeigt.

Es wird also höchste Zeit, dass Bürgermeister Ludwig, Stadträtin Sima und die Wiener NEOS aufhören, zwanghaft an der teuren und grundrechtsgefährdenden Videoüberwachung festzuhalten. Wir brauchen dringend begrünte und verkehrsberuhigte Innenstädte, aber das geht ganz einfach auch ohne Kameras.

 

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